Als Angela Merkel das letzte Mal in der Kabine der deutschen Nationalmannschaft aufgetaucht war, hatte das DFB-Team gerade Argentinien im WM-Viertelfinale mit 4:0 aus dem Turnier in Südafrika geschossen. Das war im Juli in Kapstadt. Die Kanzlerin schüttelte aus lauter Freude und Dankbarkeit jedem Spieler die Hand. Dieses Mal, knapp drei Monate später, ging es in Berlin zwar "nur" um drei Punkte in der EM-Qualifikation, und der Gegner hieß auch nicht Argentinien, Brasilien oder England, sondern "nur" Türkei, aber dennoch sah sich Merkel nach dem ungefährdeten 3:0-Erfolg des DFB-Teams erneut dazu berufen, den Spielern im Allerheiligsten, dem Umkleidebereich, einen Besuch abzustatten. Besondere Siege erfordern eben besondere Maßnahmen. Das mag sich die Kanzlerin gedacht haben.
40.000 gegen Özil
Und ja, dieses 3:0 war irgendwie auch besonders. Zum einen waren da die fast schon beängstigenden Fan-Kräfteverhältnisse im Berliner Olympiastadion, die diese Partie so speziell machten. Mehr als 40.000 Türken verwandelten die Arena in einen brodelnden Hexenkessel. Für das DFB-Team war es ein Auswärtsspiel im eigenen Wohnzimmer. Am Schlimmsten traf es den bedauernswerten Deutsch-Türken Mesut Özil.
Der neue Star von Real Madrid wurde von den türkischen Fans bei jeder Ballberührung so schlimm bepöbelt, als hätte er kurz vor dem Anpfiff noch schnell im Mittelkreis die türkische Fahne mit dem Halbmond abgefackelt. Dabei hat sich Özil, geboren in Gelsenkirchen, in seiner Jugend lediglich für eine Fußballerkarriere im deutschen und nicht im türkischen Verband entschieden. Özil zeigte sich an diesem kühlen Herbstabend in Berlin zunächst auch beeindruckt von den vielen Pfiffen. Aber je länger die Partie dauerte, desto besser kam der 21-Jährige damit zurecht. Mehr noch: Kurz vor Schluss gelang ihm sogar das zwischenzeitliche 2:0. Groß bejubelt hat Özil sein Tor übrigens nicht. Vielleicht auch besser so.
Auch Joachim Löw sprach nach dem Sieg von einer "besonderen Situation", auf die man sich im Vorfeld des Matches versucht habe, einzustellen. "Wir haben das mit den Zuschauern so erwartet", sagte der Bundestrainer und führte sogleich die aus seiner Sicht zwei entscheidenden Komponenten für das Zustandekommen dieses Erfolges im vielleicht wichtigsten EM-Qualifikationsspiel des Jahres an: "Laufleistung und Willenskraft." Präziser hätte Löws Analyse kaum ausfallen können. An glorreiche WM-Zeiten erinnerte das Auftreten der Mannschaft nämlich höchstens in den letzten zehn Minuten, als sich das türkische Team peu à peu in seine Bestandteile auflöste. Da lief das Bällchen plötzlich. Vorher wurde Fußball gearbeitet. Und zwar ziemlich erfolgreich - auch weil die DFB-Auswahl eine beeindruckende mentale Frische ausstrahlte. Damit war ja nicht zu rechnen.
Es waren vor allem die Münchner Nationalspieler Badstuber, Lahm, Kroos, Müller und Klose, die sich zumindest bis unmittelbar vor dem Anpfiff im Berliner Olympiastadion in einer noch vor wenigen Wochen nie für möglich gehaltenen Identitätskrise befanden. Nach dem 3:0-Sieg gegen die Türkei, dem dritten Erfolg im dritten Qualifikationsspiel, kann man beruhigend festhalten: Auf geschundene Bayern-Seelen hat die Nationalmannschaft auch weiterhin den Effekt einer Wellnesskur. Alle fünf spielten im weißen Trikot mit dem Bundesadler eine Klasse besser als im rot-weiß gestreiften Bayern-Jersey. Dieses Quintett war es, das der Partie seinen Stempel aufdrückte. Und doch müssen zwei Spieler aus der Fünferbande hervorgehoben werden. Miro Klose und Toni Kroos.
Klose - plötzlich wieder mit Glück
Es ist eigentlich ein Wunder. In der Bundesliga bei Bayern München vergibt derselbe Klose noch die dicksten Chancen, geistert im gegnerischen Strafraum wie sein eigenes Gespenst umher und lässt die Schultern hängen. Kaum betritt er die Wellness-Oase Nationalmannschaft beginnt die Metamorphose: "Ich kann es mir doch auch nicht erklären. Bei den Bayern wäre der Ball wahrscheinlich erst an den Pfosten gesprungen, dann an die Latte und von meiner Stirn ins Aus geflogen. Aber hier bei der Nationalmannschaft fällt er mir direkt auf den Helm und ist im Tor." So lange der Doppeltorschütze, der gegen die Türkei seine Nationalmannschaftstreffer Nummer 56 und 57 erzielte, auf der abschließenden Pressekonferenz auch nachdachte, er fand einfach keine Erklärung für das Wunder. Wie das eben so ist mit Wundern. Am Ende machte es sich Klose einfach. "Hier habe ich das Glück, das ich bei den Bayern nicht habe."
Kroos - der Matchwinner
Dass Miro Klose dazu in der Lage sein würde, sich zum x-ten Male neu zu erfinden, war ein aus deutscher Sicht erfreulicher Nebeneffekt, aber nicht die besondere Erkenntnis von Berlin. Man kennt das ja schon von Klose. Die eigentliche Überraschung war der Auftritt von Toni Kroos. Ähnlich wie Klose kam auch Kroos in äußerst fragiler Verfassung in die Hauptstadt. Nach der Verletzung von Franck Ribéry wurde das Nachwuchstalent von Bayern-Trainer Louis van Gaal auf die linke Seite abgeschoben. Dort wirkte er zuletzt seltsam gehemmt, spielte ohne jegliches Risiko und brachte kaum einen Ball zum Nebenmann. Gegen die Türkei wurde der 20-Jährige von Bundestrainer Löw mal eben mit der Herkulesaufgabe betraut, den verletzen Bastian Schweinsteiger im defensiven Mittelfeld zu ersetzen. Und er erledigte seine Aufgabe exzellent. Auch ohne Torerfolg avancierte Toni Kroos zum Matchwinner.
Präzise Standards, gute Balleroberung, hohes Laufpensum, glänzende Übersicht, sicheres Passspiel und ein gefährlicher Abschluss. All das zeichnete sein Spiel beim 3:0 gegen die Türkei aus. Nicht sein erfahrener und WM-erprobter Nebenmann auf der Doppelsechs, Sami Khedira, schlüpfte in die Schweinsteiger-Rolle, es war Kroos, der den "Emotional Leader" - Löws wichtigsten Spieler überhaupt - beinahe vergessen ließ. Das war das Besondere, das war das Spezielle an diesem Abend. Und das lässt einen aus deutscher Sicht auch so hoffnungsvoll in die Zukunft blicken. Diese junge Nationalmannschaft unter der Führung von Bundestrainer Joachim Löw kann nicht nur schön spielen und Offensivzauber entfachen, sie besitzt mittlerweile auch die mentale Stärke, sich unter schwierigsten Bedingungen durchzusetzen. Und: Sie kann Ausfälle von einzelnen Schlüsselspielern problemlos kompensieren.
Unbestätigten Gerüchten zufolge soll die Kanzlerin bei ihrer Gratulationstour in der Kabine in den Katakomben des Berliner Olympiastadions übrigens Toni Kroos eher etwas distanziert gegenüber getreten sein. Das ist aber auch nicht weiter verwunderlich. Schweinsteiger ist Merkels erklärter Lieblingsspieler.