Ganz Hamburg ist im Derby-Fieber. FC St. Pauli gegen den Hamburger SV. Spitzenspiel auch noch. Gut, nur zweite Liga, aber sei's drum. Derby! Am Millerntor! Ganz Hamburg fiebert auf den Sonntag hin. Ganz Hamburg? Nein. Ich nicht. Nicht nur, weil ich einen maximal verkrampften Zweitliga-Gruselkick erwarte, bei dem sich niemand auch nur den Hauch einer Blöße geben will. Sondern weil sich niemand den Hauch einer Blöße geben will. Am allerwenigsten die Fans. Derbys fühlen sich mittlerweile an wie Diskussionen auf Twitter: nur Haue, Härte und Hass. Besonders übel: Diejenigen, für die Feindschaft auf den anderen Verein wichtiger ist als die Liebe zum eigenen Klub.
Beim letzten Derby zum Glück in Italien gewesen
Ich habe seit rund 20 Jahren eine Dauerkarte für das Millerntor, meine Präferenzen sind also offensichtlich. Es ist nicht das erste und wohl auch nicht mein letztes Derby. Ich kann mich an unseren letzten Sieg erinnern (2011, 1:0 im Volkspark durch Gerald Asamoah), an die legendäre 4:3-Niederlage an gleicher Stelle zehn Jahre zuvor. An elende Regionalliga-Partien gegen die zweite Mannschaft. Beim letzten Stadtduell war ich in Italien, mehr aus Zufall, aber es kam mir nicht ungelegen. Ich kenne diese letzten paar Hundert Meter von der S-Bahn zum Volksparkstadion, und versuche sie zu meiden. Auch an Derbytagen. Vor allem an Derbytagen.

Es gibt Vereine, die ich nicht mag oder sogar verabscheue. Der HSV gehört nicht dazu. Warum auch? Der Klub ist aus der gleichen Stadt. Nachbarn, Freunde und Arbeitskollegen sind HSV-Fans. Nur wenige von ihnen sind diese unbelehrbaren Hater, deren einzige Leidenschaft darin besteht, den Rivalen zu verabscheuen. Zudem kommen sich unsere Teams ohnehin nur alle Jubeljahre mal in die Quere, auch sonst trennen uns Ansprüche, Umstände, ganze Fußballwelten. Im besten Fall könnten sich die Vereine egal sein. Aber ich kenne HSV-Fans, die mit Rautensocken ins Millerntor gehen und St.-Pauli-Fans, die Totenkopf-Unterhosen im Volkspark tragen. Sie hassen nicht.
Rivalität anno dazumal: Verlierer gibt einen aus
Mein Großonkel kommt aus Bremen und ist Werder-Fan. Neulich erzählte er von den ganz alten Derbys gegen den HSV - irgendwann früher, in den 60er oder 70er Jahren. Er fand das toll, hat er gesagt. Nach dem Spiel hätten die Fans zusammen in der Kneipe gesessen und griesgrämige Verlierer mussten einen ausgeben. Das war Rivalität anno dazumal. Natürlich war früher nicht alles besser. Im Oktober 1982 starb der 16-jährige Werder-Bremen-Fan Maleika, nachdem er von HSV-Fans regelrecht gesteinigt wurde. Tote hat es am Rande von Fußballspielen zum Glück lange nicht mehr gegeben.
Ausschreitungen und Gewalt dagegen sind mittlerweile eingepreist. Beim letzten Hamburger Stadtduell am Millerntor 2010 gab es mehr als 50 Festnahmen und als der HSV ein halbes Jahr später das Rückspiel wegen Regens absagen musste, stürmten HSV-Fans (!) ein St.-Pauli-Lokal auf dem Kiez. Dass der Nachhauseweg im eigenen Stadtteil für St.-Pauli-Fans auch dieses Jahr zum Spießroutenlauf werden wird, davon muss man wohl ausgehen.
Derbysierung der Gesellschaft
"Lass mich mit diesem Kuschel-Gedöns in Ruhe, das soll mal schön auf die Fresse geben", sagte dazu neulich ein Kollege, der eher auf Gendersternchen steht als auf Konfrontation. Das Stadtduell radikalisiert selbst friedliebende Zeitgenossen. Leider ist diese hässlich machende Unversöhnlichkeit von Derbys inzwischen symptomatisch für viele Bereiche des Lebens. Man muss diese Fußballsache nicht zu hoch hängen, aber es fräst sich sozusagen "die Derbysierung" durch die Gesellschaft. Hasserfüllt und aufgepeitscht stehen sich nur noch überall Lager in fremden Farben gegenüber: Ob Geschlechtergerechtigkeit, Indianerkostüme zu Karneval, Doppelnamen-Witze, Grundrente oder atomare Aufrüstung - nie geht es um weniger als ums Ganze.
Ich glaube, ich wünsche mir für Sonntag ein schönes 0:0 bei Hamburger Schmuddelwetter.