Linus Gechter ist am 27. Februar 18 Jahre alt geworden. Und wenige Wochen später ist er es nicht mehr wert, das Trikot von Hertha BSC zu tragen? So schnell kann es gehen.
Es waren bizarre Szenen, die sich nach dem Derby zwischen Hertha BSC und dem FC Union in der Ostkurve des Berliner Olympiastadions abspielten. Die Kicker der Hertha waren zu ihren Anhängern getrabt, um sich für die 1:4-Niederlage im Derby zu entschuldigen und sahen sich plötzlich wütenden Ultras gegenüber, die die Spieler nötigten, ihre Trikots auszuziehen. Begründung: siehe oben. Einige Spieler folgten der Aufforderung, um "einen Konflikt zu vermeiden", wie es Hertha-Spieler Maximilian Mittelstädt hinterher defensiv formulierte, offenbar um größere Aufregung zu vermeiden.
Ultras mit grotesker Fehlinterpretation eigener Rolle
Doch die Aufregung war längst da. Ein Sturm der Empörung brauste durch den deutschen Fußball. Die öffentliche Demütigung der Spieler, die im Derby zwar hilflos agiert, aber keinesfalls Kampfeswillen hatten vermissen lassen, sorgte für Unverständnis und scharfe Kritik am Gebaren der Ultra-Capos. Und das zunächst völlig zu Recht: Spieler öffentlich so bloßzustellen, zeugt von einer ins Groteske übersteigerten und mit falschem Pathos garnierten Fehlinterpretation der eigenen Rolle. Den Scharfrichter zu spielen und darüber zu entscheiden, wer das Hertha-Trikot tragen darf und wer nicht, ist völlig unangemessen und wirft zudem die Frage auf, welches Selbstbild die Akteure vom Samstag haben. Wenn der Support von den Rängen nicht nur banaler Selbstzweck sein soll, dann bedarf es einen Minimum an Respekt gegenüber den Spielern auf dem Rasen. Und man kann nur hoffen, dass die Berliner Fanszene intern dafür sorgt, dass sich diese Szenen nicht wiederholen.
Zumal solche Szenen die perfekte Vorlage für all jene sind, die ohnehin tiefsitzende und oft unreflektierte Aggressionen gegenüber den Fanszenen haben und jede sich bietende Gelegenheit nutzen, um schärfere Gesetze, härtere Kontrollen oder gleich die komplette Verbannung der Ultras aus den Kurven zu fordern. Das war schon zu beobachten, als vor kurzem nach einem Becherwurf auf den Linienrichter das Spiel zwischen Bochum und Mönchengladbach abgebrochen werden musste. Was da nicht an Abscheu über die aktiven Anhänger der Bochumer ausgekübelt wurde und wie sogar der VfL-Präsident von einer Einzäunung der Anhänger faselte – blöd war nur, dass der Bierbecher aus dem Sitzplatzbereich des Ruhrstadions geworfen wurde.
Bei der Beurteilung dürfen Fakten nicht stören
Und auch diesmal durften Fakten nicht stören, wenn es darum ging, mal wieder die Ultras als Grundübel der Fankultur auszumachen. Wer etwa dem pensionierten Reporter Marcel Reif bei "Bild-TV" zuhörte, der sich völlig kenntnisfrei in Rage redete, der gar keinen Unterschied mehr machen wollte zwischen ein paar durchgedrehten Anführern und den tausenden Anhängern in der Kurve und der schließlich ausgerechnet die aseptische Atmosphäre bei Manchester City als Krone der Fußballkultur ausgemacht haben wollte, der begriff, dass jeder Vorfall in der Kurve inzwischen zur verbitterten Generalabrechnung mit der Ultra-Kultur genutzt wird.
Fast zwei Jahre lang hatten konservative Publizisten und Verfechter einer biederen Klatschpappen-Kultur in den Stadien keinerlei Gelegenheit, sich zu echauffieren – weil Ultras in dieser Zeit ziemlich viel richtig machten und in der Corona-Krise mehr gesellschaftliche Verantwortung übernahmen als manch ein Klub. Das muss schwer auszuhalten gewesen sein. Nun aber darf endlich wieder draufgehauen und verallgemeinert werden.
Diese Attacken auf die aktiven Fußballfans gibt es nicht seit gestern und sie nehmen an Intensität eher zu. Umso mehr sollten sich Anhänger bemühen, derlei Kampagnen nicht unnötig Vorschub zu leisten. Der Berliner Ultra-Szene wäre deshalb die Einsicht zu wünschen, am Samstag deutlich übers Ziel hinausgeschossen zu sein. Das zu begreifen und auch öffentlich zu machen, wäre ein Zeichen von Stärke, ein Signal des Zusammenhalts an die Mannschaft und viel mehr wert als jede Choreographie in den nächsten Wochen.