Großbritanniens Innenministerin Suella Braverman steht vor dem Rauswurf – es war wohl ihr Kalkül

Die britische Innenministerin Suella Braverman
Die britische Innenministerin Suella Braverman
© JUSTIN TALLIS / AFP
Suella Braverman ist als Innenministerin im Kabinett von Rishi Sunak die Hardlinerin. Die Ultra-Konservative eckt oft an und provoziert. Jetzt steht sie nach einer Grenzüberschreitung wohl vor dem Rausschmiss. Doch war das Kalkül?

Sie erregt Gemüter. Sie hetzt. Sie provoziert. Und vielleicht ist sie bald die neue Chefin der Konservativen: Suella Braverman, die Innenministerin Großbritanniens. Noch jedenfalls.

Die 43-Jährige ist in ihrer Tory-Partei eine höchst umstrittene und streitbare Figur. Sie inszeniert sich als Vertreterin des rechten Parteiflügels, gehört zu den Ultras der Konservativen und sorgt mit ihren Äußerungen immer wieder für Empörung.

Auf ihr Kontroversen-Konto hat Braverman in den letzten Jahren fleißig eingezahlt: So wollte sie vor wenigen Tagen Wohltätigkeitsorganisationen verbieten, Zelte an Obdachlose zu verteilen, die das Leben auf der Straße als "Lifestyle" gewählt hätten.

Suella Braverman schimpft über "Tofu essende Wokeratis"

Nachdem sie im vergangenen Jahr aus dem Rennen um die Nachfolge von Boris Johnson ausschied und Innenministerin wurde, äußerte sie Bedenken gegen Pläne der Regierung, die Visabestimmungen für Menschen aus Indien zu lockern. "Die größte Gruppe von Menschen, die ihre Aufenthaltsdauer überschreiten, sind indische Migranten", sagte sie – und löste damit diplomatische Verstimmungen mit Neu-Delhi aus. 

Demonstranten beschimpfte die rechtskonservative Galionsfigur als "Guardian lesende, Tofu essende Wokerati", wetterte immer wieder gegen irreguläre Migranten, sprach von einer "Invasion" und zuletzt von einem "Hurrikan". Dass Premierminister Rishi Sunak sie damals überhaupt ins Kabinett geholt hatte, war schon heftig kritisiert worden. Denn nur wenige Tage zuvor war sie aufgrund des Versands eines offiziellen Dokuments von ihrer privaten E-Mail-Adresse vom selben Posten zurückgetreten.

Das Portal "Politico" titelte am Donnerstag, Braverman sei "the most hated woman in British politics", die meist gehasste Frau in der britischen Politik. Kaum jemand im Innenministerium hat so viele Kontroversen ausgelöst wie sie.

Bravermans Eltern sind Migranten

Suella Braverman, geborene Sue-Ellen Fernandes, benannt nach der Figur aus der Serie "Dallas", ist das einzige Kind von Christie und Uma Fernandes, die beide in den 1960er-Jahren nach Großbritannien kamen. Vater Christie ist indischer Abstammung und lebte in Kenia, ihre Mutter stammt aus Mauritius. Schon früh kam die kleine Sue-Ellen mit Politik in Berührung: Ihre Mutter arbeitete als Krankenschwester und war konservative Gemeinderätin. Sie kandidierte für das Parlament, vergeblich. 

Braverman, die ihren Namen abkürzte, weil Lehrer aus Sue-Ellen einfach Suella machten, studierte Jura am Queens' College in Cambridge und wurde Präsidentin der Konservativen Vereinigung der Universität. Kommilitonen erzählten "Politico", Braverman habe nicht ganz in die eher linksliberale Universität gepasst, sei auch nicht sehr beliebt gewesen.

Später studierte sie an der Pariser Sorbonne, spricht daher fließend Französisch. 2018 heiratete sie den Manager Rael Braverman, welchen sie als "stolzen Juden und Zionisten" bezeichnete. Das Paar hat zwei Kinder. Im Jahr 2021 nahm sie als erste Ministerin offiziell Mutterschaftsurlaub, wofür das britische Gesetz geändert werden musste.

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Ein Gastbeitrag sorgt für den Eklat

2015 gelang ihr der Einzug ins Unterhaus, paktierte mit den Brexit-Ultras. Drei Jahre später wurde sie Junior-Brexit-Ministerin unter Theresa May, bevor sie nur zwei Jahre später unter Boris Johnson als Generalstaatsanwältin ihren ersten Kabinettsposten innehatte. Eine Weggefährtin bezeichnete sie in "Politico" als "unverwüstlich": "Sie wäre heute nicht hier und würde weiterkämpfen, wenn sie es nicht wäre."

Schon früh in ihrer Karriere sorgte sie für Aufregung: 2019 verließ sie aufgrund von Mays Brexit-Plänen die Regierung, jüdische Gruppen warfen ihr "kulturellen Marxismus" vor. Sie wurde dabei gefilmt, wie sie sagte, es sei ihr "Traum", die Abschiebung von Asylsuchenden nach Ruanda zu beobachten. Angesichts der Migrationsgeschichte ihrer Eltern klingt das paradox. 

"Was wir heute haben, ist ein ganz anderes Szenario", sagte sie im Gespräch mit der "Daily Mail". Menschen würden sich auf eine gefährliche Reise begeben, Tausende von Pfund zahlen und glauben, dass sie "ein Eldorado erreichen und für immer hier bleiben", untergebracht in einem Hotel und finanziert vom Steuerzahler. "Meine Eltern sind nicht in ein Boot gestiegen, um den Ärmelkanal zu überqueren, und sie sind auch nicht illegal eingereist."

Doch nun scheint Braverman über das Ziel hinausgeschossen zu sein. In einem Gastbeitrag für die Zeitung "The Times" hat die Hardlinerin der Londoner Polizei, für die sie selbst verantwortlich ist, vorgeworfen, auf dem linken Auge blind zu sein. Sie kritisierte, dass pro-palästinensische Demonstrationen nicht verboten wurden und warf der Polizei vor, Rechtsbrüche bei den "Hassmärschen" gegen die israelische Bombardierung des Gazastreifens zu dulden. 

Labour-Opposition: Braverman "außer Kontrolle"

"Rechte und nationalistische Demonstranten, die Angriffe verüben, werden zu Recht hart bestraft – aber pro-palästinensische Mobs, die fast das gleiche Verhalten an den Tag legen, werden weitgehend ignoriert, selbst wenn sie eindeutig gegen das Gesetz verstoßen", schrieb sie und sprach von einer "Doppelmoral" der Polizeiführung. Viele sahen in ihren Äußerungen einen Angriff auf die Unabhängigkeit der Polizei – auch in ihrer eigenen Partei. 

Der ehemalige Chefjustiziar der britischen Regierung, der konservative Politiker Dominic Grieve, bezeichnete Bravermans Äußerungen als "inakzeptabel". Er sagte der BBC, dass die Innenministerin die Regierung ins Chaos gestürzt habe. Der konservative Abgeordnete und Vorsitzende des Justizausschusses, Bob Neil, sagte, Bravermans Position in der Regierung sei unhaltbar.

Auch die Opposition kritisiert Braverman. Die Labour-Partei, die in allen Umfragen weit vorne liegt, bezeichnete sie als "außer Kontrolle". Laut Partei-Chef Keir Starmer schürt Braverman in einer Zeit, in der Spannungen abgebaut werden sollten, diese und untergräbt die Polizei. "Sie tut genau das Gegenteil von dem, was die meisten Menschen in diesem Land von einer Innenministerin erwarten würden", so der Oppositionsführer.

Premier Sunak unter Druck

Für weiteren Ärger sorgte Bravermans Vergleich der Pro-Palästina-Proteste mit denen in Nordirland. Sie bezeichnete die Märsche als "Behauptung der Vorherrschaft bestimmter Gruppen ... von der Art, wie wir sie eher aus Nordirland kennen". Eine Quelle aus dem Umfeld des Innenministers sagte dem "Guardian", die Bemerkung sei eine Anspielung auf die Aktivitäten "dissidenter Republikaner" dort gewesen.

Mit ihrem Gastbeitrag hat Braverman Premier Sunak massiv unter Druck – und ihre Karriere als Innenministerin aufs Spiel gesetzt.

Für Premierminister Rishi Sunak wird seine Innenministerin zum Problem
Für Premierminister Rishi Sunak wird seine Innenministerin zum Problem
© Phil Noble/PA Wire / DPA

Ob der Premier den Eindruck habe, dass Braverman seine Autorität noch respektiere, musste sich Sunaks Sprecher fragen lassen, was dieser mit "Ja" beantwortete. Der Regierungschef habe weiterhin "volles Vertrauen" in seine Parteifreundin. In einem Interview mit dem Nachrichtensender Sky News am Freitag wollte Bildungsstaatssekretär Robert Halfton dies allerdings nicht bekräftigen.

Wird Suella Braverman gefeuert?

Sunak ist aufgrund der Affäre um seine Innenministerin geschwächt. Braverman habe die "Lizenz, das Unsagbare zu sagen", kommentierte BBC-Chefreporter Chris Mason. "Woher wissen wir, dass sie diese Lizenz hat? Hätte sie sie nicht, wäre sie gefeuert." Dass Sunak sie gewähren lässt, zeigt seine Schwäche. Als Vertreterin des rechten Flügels scheint sie für ihn von großer Bedeutung zu sein.

Für den Premier kommt die Chose zur Unzeit. Eigentlich möchte Sunak politische Vorhaben vorantreiben und das Chaos sowie die Skandale seiner beiden Vorgänger Johnson und Truss hinter sich lassen. Nun hat der Braverman-Eklat die Downing Street erneut an den Rand einer Regierungskrise gebracht.

Der Premier hat sich jedoch ein Schlupfloch offengelassen. Sein Sprecher bestätigte, dass der Gastbeitrag von Braverman in der "Times" nicht von der Regierung abgesegnet war. Die Angelegenheit soll untersucht werden, betonte er.

Am Freitag berichtete die "Times", dass Sunak derzeit die Zukunft seines Kabinetts überdenkt und eine geplante Rochade im Kabinett vorziehen könnte, um die Innenministerin zu entlassen. Demnach soll der Kabinettsminister und stellvertretende Premierminister Oliver Dowden ihr Nachfolger werden. 

"Suella Braverman macht Schlagzeilen. Nicht zum ersten Mal. Und auch nicht zum letzten Mal."

Politische Beobachter halten Bravermans jüngste Kontroverse jedoch für wohlüberlegt und kalkuliert. Der 43-Jährigen wird seit einiger Zeit nachgesagt, sich für eine künftige Kandidatur um den Parteivorsitz der Tories vorzubereiten. Andere vermuten hinter ihren Aussagen eine bewusste Strategie, um Wähler aus dem rechten Spektrum vor den nächsten Parlamentswahlen anzusprechen.

Nicht wenige gehen davon aus, dass Braverman spätestens nach der nächsten Wahl, die voraussichtlich 2024 stattfinden wird, den Parteivorsitz für sich beanspruchen wird. Sollte sie nun von Sunak gefeuert werden, wird ihr Name nicht mit einer Wahlniederlage in Verbindung gebracht, heißt es in London.

"Diese Ambitionen sind echt", sagte BBC-Chefreporter Chris Mason. Wenn Rishi Sunak über die Probleme mit Braverman stolpern sollte oder bei den nächsten Unterhauswahlen – wie die aktuellen Umfragen vorhersagen – krachend scheitern, dürfte eine Kandidatur von Suella Braverman für den Tory-Vorsitz sicher sein.

"Suella Braverman macht Schlagzeilen. Nicht zum ersten Mal. Und auch nicht zum letzten Mal."

Quellen: Nachrichtenagenturen DPA und AFP, BBC, Sky News, "The Guardian", "The Times", "Daily Mail", "Politico", "The News"