Protest in London Streit und Schweigen vor der Großdemonstration für Palästina

Pro-Palästina-Demonstration in der Londoner Regent Street im Oktober. Die auf den Kundgebungen gerufene Parole "Vom Fluss bis ans Meer, Palästina wird frei sein" gilt als kontrovers. 
Pro-Palästina-Demonstration in der Londoner Regent Street im Oktober. Die auf den Kundgebungen gerufene Parole "Vom Fluss bis ans Meer, Palästina wird frei sein" gilt als kontrovers. 
© Dagmar Seeland
Am Gedenktag des Waffenstillstands von 1918 wollen Hunderttausende Briten in London auf die Straße gehen. Sie fordern: einen Waffenstillstand für Gaza. Die Tories heizen die Stimmung an. Ortstermin in einer nervösen und zutiefst gespaltenen Metropole. 

"Kein Kommentar", sagt der Mann mit dem Schnauzbart auf die Frage, ob er mit dem stern über die für diesen Samstag geplanten Demonstrationen für einen Waffenstillstand in Gaza reden wolle. Eben lächelte er noch, nun ist seine Miene abweisend. Der Mann trägt ein braunes Tweed-Sakko, viele Orden am Revers und eine lange Halskette aus roten Emaille-Mohnblumen zum Anstecken. Letztere verkaufen er und andere betagte Freiwillige so wie immer im November am Stand der britischen Kriegsveteranen-Organisation "Royal British Legion", der hier in der Bahnhofshalle der Londoner Charing Cross Station steht. 

Die roten "Poppies" sind ein Symbol des Gedenkens an die Soldaten, die in zwei Weltkriegen im Kampf um die Verteidigung der britischen Demokratie und ihrer Freiheiten ihr Leben ließen. Jedes Jahr am 11. November gedenkt ihrer die gesamte britische Nation, von Schottland bis Wales, von Nordirland bis Kent. Am Samstag wird es wieder eine Gedenkminute geben, genau um 11 Uhr, dem Zeitpunkt des Waffenstillstands am Ende des Ersten Weltkriegs. Am Sonntag, dem Volkstrauertag, werden die sechs ehemaligen Premierminister, darunter Boris Johnson und die 49-Tage-Premierministerin Liz Truss, am Kriegsgefallenen-Denkmal in Whitehall Spalier stehen, während der derzeitige Premier Rishi Sunak einen Kranz aus Mohnblumen am Denkmal niederlegen wird. Das ist, trotz Johnson und Truss, in jedem Jahr ein getragener und zutiefst ergreifender Moment – und einer, der diese Regenbogen-Nation bislang vereinte.

Sitzstreik auf dem Bahnhof Charing Cross

Seit dem 7. Oktober aber ist auch in London alles anders. Der Mohnblumen-Stand auf dem Bahnhof Charing Cross Station machte vor einer Woche Schlagzeilen, weil die älteren Herrschaften an ihrem Verkaufstischchen umzingelt waren von Demonstranten mit Palästinensertüchern und Palästina-Fahnen, die in der Bahnhofshalle einen Sitzstreik abhielten. Die Damen und Herren wirkten augenscheinlich "not amused", doch der Protest verlief friedlich. 

Der Stand der "Royal British Legion" verkauft Mohnblumen-Anstecker aus Emaille und Papier auf dem Bahnhof Charing Cross Station, der Erlös kommt Kriegsveteranen zugute. 
Der Stand der "Royal British Legion" verkauft Mohnblumen-Anstecker aus Emaille und Papier auf dem Bahnhof Charing Cross Station, der Erlös kommt Kriegsveteranen zugute. 
© Dagmar Seeland

Auch die Behauptung, im schottischen Edinburgh sei ein Mohnblumen-Verkäufer der "Royal British Legion" tätlich angegriffen worden, erwies sich im Nachhinein als Fake News und das vermeintliche Opfer als Hochstapler, der sich als Kriegsveteran ausgegeben hatte. 

Überhaupt lässt sich im Königreich derzeit schwer ausmachen, was wahr und was erfunden, was tatsächlich bedenklich und was maßlos übertrieben ist. Mitverantwortlich für diese "Post-Truth"-Landschaft, die aus dem populistischen Drehbuch eines Donald Trump stammen könnte, ist Sunaks Regierung, die in dem Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern Potential für einen neuen Kulturkrieg gefunden hat. 

Nahost-Konflikt als nützliche Vendetta

Insbesondere Sunaks Innenministerin Suella Braverman scheint ausgerechnet den Konflikt im Nahen Osten als nützliche Waffe in ihrer ganz persönlichen Vendetta entdeckt zu haben. Die rechte Populistin schrieb im Alleingang einen Beitrag für die Londoner "Times", in der sie die wöchentlichen pro-palästinensischen Demonstrationen  als "Hassmärsche" und ihre Teilnehmer als "Horden" bezeichnete. Sie unterstellte weiterhin der Londoner Metropolitan Police, auf dem linken Auge blind zu sein, weil sie den Protest am Gedenk-Wochenende nicht einfach verbiete. 

Was auch immer Braverman mit diesem Artikel beabsichtigt hatte: Die Ironie des von ihr angestrebten Verbots einer Demonstration für einen Waffenstillstand am Gedenktag eines historischen Waffenstillstands scheint der Innenministerin entgangen zu sein. Sie schaffte es zudem mit ihren Äußerungen, die ohnehin aufgeladene Stimmung in der britischen Hauptstadt zusätzlich anzuheizen und neben Parteikollegen sowohl Muslime wie auch Juden zu verärgern.

"Jüdischer Block" wird am Samstag mitmarschieren

Rund 160.000 Juden leben in London, was die Stadt zur Heimat der zweitgrößten jüdischen Diaspora Westeuropas nach Paris macht. Zu ihnen gehört Naomi Wimborne-Idrissi, Pressesprecherin der Organisation "Jewish Voice for Labour" und ehemals Mitglied der Labour-Partei. "Vor einem Jahr hat mich Keir Starmer rausgeworfen", erzählt sie freimütig, "weil ich mich mit Gruppen innerhalb der Partei verbündete, die er als antisemitisch verbannt hatte. Es ist bizarr." 

Wimborne-Idrissi ärgert sich darüber, dass die britischen Medien Fotos der Demonstrationen zeigen, auf denen Poster und Fahnen von jüdischen Organisationen wie ihrer zu sehen sind, "aber im Text werden diese Proteste dann als antisemitisch dargestellt, so, als wären wir nicht dabei. Wir Juden sind doch keine homogene Gruppe, in der alle dieselbe Meinung vertreten!" Wie viele Mitglieder ihrer Organisation werden an dem Marsch am Samstag teilnehmen? "Alle", sagt sie, ohne zu zögern. "Es gibt eine ganze Reihe jüdischer Organisationen, die ein Problem mit Israels Politik haben." Neuerdings gesellten sich zunehmend junge, "sehr religiöse" Juden zu den Israel-Kritikern, weil sie die Bombardierung von Gaza mit großer Sorge beobachteten. 

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"Die Londoner Juden haben Angst"

Dennoch ist Naomi durchaus klar, dass Leute wie sie eine kleine Minderheit unter den Londoner Juden sind. Wie gespalten ist die jüdische Gemeinschaft? "Vor allem fühlen sich viele Juden jetzt unsicher. Sie haben Angst." Dafür gibt es triftige Gründe: 218 antisemitische Straftaten seien in London seit dem 7. Oktober begangen worden, vermeldet die Metropolitan Police. Das entspreche einem Anstieg um 1350 Prozent, gemessen am gleichen Zeitraum im Vorjahr. Auch die Zahl der islamophoben Straftaten sei seitdem angestiegen, allerdings "nur" um 140 Prozent.  

Wer den Stadtteil Golders Green in Nordlondon besucht, kann diese Angst spüren. Auch hier, wo viele orthodoxe Juden wohnen, heißt es "kein Kommentar", wenn man mit den vorbei huschenden Kippa-tragenden Männern über den für Samstag geplanten Protest oder die Angriffe auf die jüdische Gemeinde reden will. 

Die Hauptstraße von Golders Green. Orthodoxe Juden, aber auch Türken, Griechen, Libanesen und andere Nationalitäten wohnen hier. 
Die Hauptstraße von Golders Green. Orthodoxe Juden, aber auch Türken, Griechen, Libanesen und andere Nationalitäten wohnen hier. 
© Dagmar Seeland

Doch Indizien für die Angst finden sich überall: Hier ein hastig errichteter Bauzaun, der zum Schutz einer ultra-orthodoxen Behörde errichtet wurde, dort eine Synagoge hinter hohen Mauern und elektrischen Toren, bewacht von Sicherheitspersonal. Das Schaufenster des Männerfriseurs "Yossi" sieht aus, als hätte jemand mit einem Hammer darauf eingeschlagen. 

Klagemauer als Wandtapete: Ein Friseurladen in Golders Green in London
Klagemauer als Wandtapete: Ein Friseurladen in Golders Green in London
© Dagmar Seeland

Dahinter wird ein Mann vor einer Wandtapete der Klagemauer in Jerusalem frisiert. Gegenüber steht das koschere Restaurant "Pita", das für sein israelisches Streetfood bekannt ist. Dort wurde zwei Tage nach den Terroranschlägen der Hamas eingebrochen. 

Rund 50 Prozent der Briten sind dafür, den Protest zu verbieten

Nur Minuten entfernt von den koscheren Metzgern, Bäckereien und Restaurants des orthodoxen Golders Green finden sich türkische und libanesische Restaurants, eine griechisch-orthodoxe Kirche und Supermärkte, die Halal-Fleisch verkaufen. Dieser berühmte kulturelle Schmelztiegel war bisher das, was Londoner wie Zuwanderer an ihrer Stadt so schätzten. Seit dem 7. Oktober ist auch dieser Aspekt ein Stück komplexer geworden. 

Unabhängigen Umfragen zufolge sind knapp 50 Prozent aller Briten für ein Verbot der Pro-Palästina-Kundgebungen. Vor allem manche Sprechchöre, die auf den Märschen gerufen werden, halten viele Briten für kontrovers, etwa "Vom Fluss bis zum Meer wird Palästina frei sein". Heißt das nicht, dass die Juden aus ihrem Land vertrieben werden sollen? "Nein", sagt Naomi, "es heißt schlicht, dass Palästinenser und Israelis eines Tages auf dem Gebiet Israels in Harmonie und Frieden miteinander leben werden." Ist dieses Wunschdenken nicht etwas naiv angesichts all dessen, was sich zuerst in Israel zugetragen hat und nun in Gaza passiert? "Vielleicht – aber was ist die Alternative? Armageddon?"

1,3 Millionen Muslime leben in London

Der "Stellvertreterrat der Britischen Juden" will zu den Protesten bis zum Montag erst einmal gar nichts sagen. "Wir beobachten das Ganze. Rufen Sie nächste Woche noch mal an", sagt der Pressesprecher Simon Round. Was erwartet er – eine Eskalation, einen Zusammenstoß mit Rechten? "Auszuschließen ist das nicht."

Mehr als 1,3 Millionen Muslime sind in London zu Hause, sie stellen damit 15 Prozent der Bevölkerung der Stadt. Wie sehen sie die Lage vor dem Protest, haben sie Angst vor rechten Gruppen, die sich von Bravermans Rhetorik ermutigt fühlen könnten? Die Frau mit dem Hijab an der Kasse des Noor Supermarkts in der nahöstlich dominierten Edgware Road wirft dem im Hintergrund stehenden Ladenbesitzer einen verunsicherten Blick zu. Der schüttelt den Kopf. "Kein Kommentar." 

Die Royal British Legion hat inzwischen der Regierung offen geraten, den Protest nicht zu verbieten. "Für demokratische Rechte wie die freie Meinungsäußerung haben viele Soldaten vor mehr als einem Jahrhundert ihr Leben gelassen", heißt es in der Erklärung zur Begründung.