Bayern in der Champions League Die Meisterleistung gegen Arsenal ist Tuchels Vermächtnis

  • von Patrick Strasser
Wird nach der Saison nicht mehr Bayern-Trainer sein, zog jetzt aber trotzdem ins Champions-League-Halbfinale ein: Thomas Tuchel
Wird nach der Saison nicht mehr Bayern-Trainer sein, zog jetzt aber trotzdem ins Champions-League-Halbfinale ein: Thomas Tuchel
© Tom Weller / DPA
Der FC Bayern München und Thomas Tuchel stehen nach dem Sieg im Viertelfinal-Rückspiel gegen Arsenal im Halbfinale der Champions League – obwohl Tuchel angeblich die Kabine verloren hat. Nach dem Spiel geht es auch um seine Nachfolge.

Es ist ein Foto, das man nicht für möglich gehalten hätte in Fußball-Deutschland. Ein Dokument, das man beinahe anzweifelt. Als hätte es eine KI generiert. Die digitale Uhr an der Wand in der Kabine des FC Bayern München zeigt Rot auf Schwarz 23:08 Uhr an, der Verein verschickt das Bild um kurz vor Mitternacht über seine Social-Media-Kanäle mit dem Zusatz "This Team", einer Faust, einem Herzen und dem Hashtag MiaSanMia.



Zu sehen ist die Mannschaft des FC Bayern, die kurz zuvor mit einem verdienten 1:0-Erfolg im Viertelfinal-Rückspiel der Champions League gegen den FC Arsenal das Halbfinale erreicht hat. Alle Spieler, auch der verletzte Serge Gnabry oder der gesperrte Alphonso Davies, sowie sämtliche Co-Trainer jubeln ins Kamera-Objektiv. Ein Foto, das man hören und fühlen kann. Schweiß, Jubel, Erleichterung. Und im Zentrum des Bildes, vor seiner Mannschaft und seinem Stab ein völlig enthemmter Thomas Tuchel. Breitbeinig, die Arme weit auseinandergebreitet, die Hände zu Fäusten geballt, den Mund weit aufgerissen. So sehen Sieger aus. Zugleich fragt man sich: Sieht so ein Trainer aus, der angeblich zwischendurch seine Kabine verloren hat und als "lame duck" in die Vereinsgeschichte einzugehen drohte, weil ihm im Februar sein Vertrag um ein Jahr, auf dieses Saisonende, gekürzt wurde?

Nach dem Sieg gegen Arsenal ist Thomas Tuchel wie befreit

"Es bedeutet mir sehr viel. Ein wichtiger Schritt. Halbfinale, die letzten Vier", sagte Tuchel, plötzlich wie befreit. Der 50-Jährige gab all seine Emotionen preis: "Alle sind sehr zufrieden. Ich bin sehr zufrieden und sehr, sehr glücklich für meinen Staff, den Verein und die Mannschaft. Die Spieler sind stolz, sie können zurecht stolz sein. Das war eine fantastische Team-Performance, dazu hatten wir das Quäntchen Glück. Gegen diesen Gegner in beiden Spielen nicht zu verlieren – ein dickes Kompliment an die Mannschaft!"

Nach dem 2:2 vor acht Tagen in London sicherten sich die Bayern den ersten Halbfinal-Einzug seit dem Triple-Triumph 2020. Ein starkes Statement für den von Bayer Leverkusen entthronten Meister und speziell von Trainer Tuchel, der nun wie einst José Mourinho mit drei Vereinen ein Halbfinale in der Königsklasse erreichen konnte: mit Paris Saint-Germain (2020) und ein Jahr später mit dem FC Chelsea, als die Engländer den Henkelpott gewinnen konnten. Und nun mit den Münchnern dank des Kopfball-Tores von Joshua Kimmich nach Flanke von Raphael Guerreiro.

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Im Halbfinale trifft Bayern nun auf Real Madrid (30. April und 8. Mai), das sich im Elfmeterschießen bei Titelverteidiger Manchester City durchsetzen konnte. Das deutsch-deutsche Traum-Finale gegen Borussia Dortmund, im Viertelfinale gegen Atlético Madrid weitergekommen, lebt. Kommt es am 1. Juni tatsächlich zur Neuauflage wie vor elf Jahren an Ort und Stelle, als die Bayern unter Jupp Heynckes den BVB mit Coach Jürgen Klopp 2:1 bezwangen?

"Wir haben zwei sehr, sehr schwierige Halbfinal-Spiele gegen Real vor uns", sagte Siegtorschütze Kimmich und ergänzte: "So ein deutsches Finale wäre natürlich ein Träumchen." Tuchel meinte zum bevorstehenden Duell mit Bayerns Ex-Trainer Carlo Ancelotti: "Bei City zu gewinnen, ist ein unglaubliches Ausrufezeichen. Aber wer sonst außer Real, wer sonst außer Carlo Ancelotti sollte das schaffen? Wir sind nicht der Topfavorit in dieser Konstellation. In zwei Wochen geht’s los, das ist ein riesengroßer Anreiz. Wir werden alles dafür tun, die Saison in Wembley zu beenden." Und nicht schon am Pfingstsamstag in Hoffenheim, am letzten Bundesliga-Spieltag.

Sky: "Fortgeschrittene Gespräche" der Bayern mit Nagelsmann

Im Rückspiel gegen Arsenal ging es auch um des Trainers Vermächtnis. Denn parallel zum Saisonendspurt läuft die Trainersuche. Sky berichtete von "fortgeschrittenen Gesprächen" mit Ex-Coach Julian Nagelsmann, der einen Drei- oder Vierjahresvertrag erhalten soll. Falls er sich nicht doch für die Fortführung seines Bundestrainer-Jobs entscheidet. Der DFB kämpft, will Nagelsmann bis zur WM 2026 binden.

Was Tuchel egal sein kann. Mit einem Weiterkommen gegen Arsenal hat er trotz verpatzter nationaler Ziele international das Soll erfüllt oder sogar bereits übererfüllt. Denn dieser Halbfinal-Einzug nach all den Krisen und Turbulenzen ist ein dickes Ausrufezeichen – gewachsen auf Tuchels Mist. Mit zig Vorgeschichten: Gedemütigt vom überlegenen neuen Meister Bayer Leverkusen, der den Titel ganz Bayern-like am 29. Spieltag mit 16 Punkten Vorsprung sicherte. Blamiert vom Drittligisten 1. FC Saarbrücken (1:2) in der zweiten Runde des DFB-Pokals. Mit der Wiederauferstehung der Mannschaft, die sich sechs Liga-Pleiten (so viele wie in der letzten titellosen Saison 2011/12) leistete und der Rehabilitierung des Trainers hat sich die Stimmung an der Säbener Straße wieder komplett gedreht. Im Halbfinal-Duell mit Königsklassen-Rekordchampion Real Madrid kann Bayern als Underdog nur gewinnen.

Julian Nagelsmann
Wird Julian Nagelsmann als Bayern-Trainer zurückkehren?
© Getty Images

Egal, wie das Halbfinale ausgeht, wird Tuchel etwas hinterlassen. Er geht als Augenöffner. Als einer, der unangenehme Wahrheiten ausgesprochen hat mit seiner ungefilterten Kader-Analyse. Mit der Erkenntnis, dass eine Achse fehle bzw. die bestehende (deutsche) Achse aus seiner Sicht nicht mehr konkurrenzfähig sei auf höchstem Niveau. Das Manko des Augenöffners: Er hat so manches zu radikal, zu ehrlich und unvorsichtig moderiert. Für manche im Verein war und ist Tuchel daher der Buhmann, womöglich jedoch dürften ihm einige Herren in der Retrospektive noch dankbar sein für seine Offenheit.

Von einer "taktischen Meisterleistung" sprach Bayern-Präsident Herbert Hainer am späten Mittwochabend in den Katakomben der Allianz Arena. Von Beginn hatten sich die Gastgeber etwas zurückgezogen, wie im Hinspiel den Gunners hin und wieder das Mittelfeld überlassen, die Engländer in die Umschalt-Falle gelockt. Um über schnelle Konter zum Erfolg zu kommen, und das ohne ihr Tempo-Trio, die verletzten Flügelstürmer Serge Gnabry und Kingsley Coman sowie den gesperrten Alphonso Davies. Deshalb blieb der doch nicht mehr ganz so schnelle Routinier Thomas Müller (wie in London) ganz draußen, fürs Verteidigen der linken Abwehrseite gegen Arsenals Bukayo Saka stellte Tuchel Rechtsfuß Noussair Mazraoui und zur Unterstützung Linksfuß Raphael Guerreiro.

Nagelsmann wäre nicht der erste aufgewärmte Bayern-Trainer

Der Plan ging auf. War die Bayern in der ersten Halbzeit teilweise zu passiv, wurden sie nach der Pause griffiger, giftiger, entschlossener. "In der ersten Halbzeit war es wie ein Schachspiel, keiner wollte irgendeine Figur opfern und eine Lücke aufreißen", erklärte Tuchel, "in der zweiten Hälfte haben wir unsere Mannschaft ermuntert, mehr Risiko einzugehen." Kurz dem Seitenwechsel köpfte Leon Goretzka an die Latte, den Nachschuss setzte Guerreiro an den linken Außenpfosten. Eine taktische Meisterleistung? "Weiß ich nicht", spielte Tuchel das Lob des Präsidenten herunter, "das ist alles immer nur ein Gefährt, aber die Spieler fahren das Auto, füllen das mit Leben. Das ist gegen Arsenal in beiden Spielen bis zum absoluten Anschlag passiert."



Eine Blaupause für Nagelsmann? In einem am Donnerstag erschienenen Podcast kündigte Berater Volker Struth an, sein Klient werde sich "in den nächsten fünf, sechs, sieben Tagen entscheiden". Zwischen dem DFB und den Bayern. Struth weiter: "Ohne dass ich sagen möchte, wer die Interessenten sind. Ich kann nur sagen, es ist nicht nur Bayern München." Der neue Sportvorstand Max Eberl favorisiert Nagelsmann (36), der von Juli 2021 bis März 2023 an der Säbener Straße gearbeitet hat, als Tuchel-Nachfolger.

Geht das gut? "Aufgewärmt ist nur Gulasch gut", sagt der Volksmund. Doch die Beispiele der ehemaligen Trainer Udo Lattek, Giovanni Trapattoni, Ottmar Hitzfeld und Jupp Heynckes stehen in den Geschichtsbüchern der Bayern für ein erfolgreiches "Auf ein Neues!" Wird der alte wieder der neue Trainer? Vorstandsboss Jan-Christian Dreesen meinte nach dem Triumph über Arsenal: "Das werden wir sehen." Ein scharfes Dementi klingt anders.

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