Die Schiedsrichter sind nun auch bei "Kaiser" Franz Beckenbauer in Ungnade gefallen. "So hundertprozentig kriegen sie die Lage nicht in den Griff", meinte der WM-Organisationschef und fügte angesichts der Karten-Inflation hinzu: "Das hat uns alle ein bisschen geärgert." ARD-Experte Günter Netzer kritisierte: "Mir nehmen die Schiedsrichter zu viel Einfluss auf die Spiele. Sie ziehen allzu schnell Gelb, dann folgt Gelb-Rot. Das verfälscht den Ausgang der Spiele und wird nicht zum Erhalt der Freude am Fußball beitragen."
Weniger diplomatisch übte Martin Bader, Sportdirektor des Bundesligisten 1. FC Nürnberg, Kritik an der Häufung von Fehlurteilen der WM-Referees: "Wenn die Fifa-Anordnungen so in der Bundesliga umgesetzt würden, könnten wir den Laden nach drei Wochen zusperren."
Rote Karte ist "nicht gerechtfertigt"
Nach der Gelb-Trilogie von Graham Poll (England) und dem Karten- Rekord von Walentin Iwanow (Russland) erregte am Montag im Spiel Italien - Australien (1:0) der spanische Unparteiische Luis Medina Cantalejo mit dem Platzverweis für den Marco Materazzi (Italien) und dem Last-Second-Elfmeter für die "Squadra Azzurra" die Gemüter. Nicht nur Beckenbauer hielt die Rote Karte "für nicht gerechtfertigt" und den Strafstoß für "ein Geschenk". Normal findet der Ex- Nationalspieler die ganze Pfeiferei jedenfalls nicht mehr. "Irgendwie ist alles ein bisschen anders."
Dies belegt auch die Statistik der 54 Spiele bis einschließlich Montag. 24 Platzverweise bedeuten WM-Rekord, er stand seit dem Frankreich-Turnier 1998 bei 22 Roten Karten, das allerdings nach allen 64 Spielen. Auch die Zahl der Verwarnungen von bisher 263 ist rekordverdächtig. Die Marke von 272 in 64 WM-Spielen bei der WM 2002 dürfte nach dem Worldcup in Deutschland keinen Bestand mehr haben.
Schiedsrichter stellen sich zu sehr in den Mittelpunkt
Auch beim frühere Fifa-Referee Bernd Heynemann schwindet die Anerkennung für seine Nachfolger, die er nach der WM-Vorrunde noch "als beste 33. Mannschaft" gelobt hatte. "Wenn man das jetzt im Achtelfinale gesehen hat, relativiert sich das. Die Schiedsrichter reagieren mehr, als dass sie agieren", monierte Heynemann, der bei der EM 1996 und bei der WM 1998 gepfiffen hatte.
Dass der Weltverband Fifa nur noch 21 Schiedsrichter-Gespanne - vor acht Jahren in Frankreich waren es 32 Referees - nominiert hat und jeder deshalb häufiger zum Einsatz kommt, hält er nicht für einen Nachteil: "Das ist eine gute Sache. Umso mehr Einsätze, desto besser kann sich das Gefühl für das Spiel entwickeln. Es könnten noch weniger Unparteiische sein." Auch für Bader ist nicht die Anzahl das Problem, sondern dass sich viele Schiedsrichter "zu sehr in den Mittelpunkt stellen". Außerdem sei der Druck der Fifa auf die Referees durch die Anwesenheit eines vierten und fünften Offiziellen zu groß. "Natürlich gibt es Regeln, aber die Schiedsrichter müssen auch Spielraum haben", argumentiert Bader.
Zu strenge Fifa-Vorgaben
Ursache für die Probleme sind nach Ansicht des Bundesliga- Unparteiischen Lutz Wagner auch die Fifa-Vorgaben. "Die Schiedsrichter sind dazu aufgefordert worden, kleinlicher zu pfeifen. Das ist nicht verkehrt", meinte der 34-Jährige aus dem hessischen Hofheim, "doch bei so vielen Verwarnungen verliert die Gelbe Karte ihre Wirkung".
Bader warnt vor einer Übernahme der Fifa-Marschroute für Referees durch den deutschen Profi-Fußball. "Ich hoffe, dass die Verantwortlichen ihre Schlüsse aus der WM ziehen und bestimmte Vorgaben der Fifa nicht in der Bundesliga umsetzen. So wie es bereits mit der beim Confederations Cup praktizierten unsinnigen Abseits- Regel war, die dann nicht in der Liga übernommen wurde."
Gerhard Mayer-Vorfelder sieht jedoch keinen Grund, in die Schiedsrichterschelte mit einzustimmen. "Die Schiedsrichter sind erheblich besser als im Jahre 2002", sagt der Noch-Präsident des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) und schiebt den Spielern den Schwarzen Peter zu. "Die Mannschaften haben sich nicht an die Ordnung gehalten, die der Fußball vorgibt." Mayer-Vorfelder, auch Mitglied im Fifa- und im UEFA-Exekutivkomitee, wies zudem darauf hin, dass alle WM- Teilnehmer vor dem Turnier auf die strengeren Regelauslegungen hingewiesen worden waren. "Und das nicht nur im stillen Kämmerlein."