In der fünften Minute der Nachspielzeit erlöste Toni Kroos eine ganze Nation vor den Fernsehern: 2:1, Schweden geschlagen, Chance aufs Weiterkommen in letzter Sekunde gewahrt. Entsprechend forsch trat eben jener Kroos nach dem Abpfiff vor die Mikrofone: "Natürlich geht das erste Tor auf meine Kappe. Aber man muss dann auch die Eier haben, die zweite Halbzeit so zu spielen", gab der Real-Star zu Protokoll. Große Töne, aber er hatte ja schließlich auch geliefert.
Kroos stand sinnbildlich für eine deutsche Elf, die viel zu eng am historischen Vorrundenaus vorbeigeschrammt ist, als ihr das lieb sein dürfte. Die erste Halbzeit ging da los, wo es gegen Mexiko zu Ende ging: bei verunsicherten Weltmeistern, die sich haarsträubende Fehler im Aufbau leisteten. Nach Rüdigers Aussetzer rettete noch der starke Boateng, bei Kroos Fehlpass fiel dann folgerichtig die Führung der Schweden. Ausgerechnet Kroos, dieser ballsichere Aufbauspieler, vielleicht der beste seiner Zunft.
Dabei hatte die DFB-Elf durchaus stark begonnen, kam in den ersten zehn Minuten zu guten Chancen. Draxler hätte nach Werner-Vorarbeit bereits in Minute zwei die Führung erzielen müssen. Doch der gute Start verpuffte schnell, die Fehler nahmen zu. Spürbar schwappte die Verunsicherung durch alle Mannschaftsteile. Zur Pause durfte man sich bei Manuel Neuer bedanken, nicht noch weiter zurückzuliegen. Die Blamage lag in der Luft.
Deutschland mit zwei verschiedenen Hälften
Was auch immer Joachim Löw den seinen dann in der Pause mit auf den Weg gab: Es fruchtete. In Durchgang zwei trat eine andere deutsche Elf auf den Rasen. Reus egalisierte in der 48. Minute zum 1:1, nachdem der eingewechselte Gomez per Laufweg an den ersten Pfosten den Raum im Sechszehner geöffnet hatte. Eigentlich noch jede Menge Zeit, das Spiel zu drehen. Die Schweden aber verteidigten mit allem, was sie hatten. Zudem blieb Müller bis auf einige wenige Hereingaben weiterhin unsichtbar. Auch der eingewechselte Gündogan trug seine tiefe Verunsicherung offen vor sich her.
Ordentlich Meter spulte dafür der emsige Werner runter, erarbeitete sich Bälle, zog Fouls und legte Chancen auf, aber es sollte einfach nichts werden mit der deutschen Führung. Gomez vergab noch zwei Großchancen, der spät eingewechselte Brandt traf nur den Pfosten. Doch die große Pointe des Abends stand noch aus.

Als Deutschland nach Boatengs gelb-roter Karte bereits zehn Minuten in Unterzahl spielte und die letzten Sekunden von der Uhr liefen, sollte es Kroos sein, der die Deutschen erlöste. Der Mann, der wohl eine seiner schlechtesten ersten Halbzeiten im DFB-Dress überhaupt abgeliefert und den bitteren Gegentreffer verschuldet hatte. Doch auch er kam wie ausgewechselt aus der Kabine. Sichtlich von der eigenen Schuld getrieben, machte er sich auf, seinen eklatanten Fehler auszubügeln. Er war der große Antreiber in Durchganz zwei, versuchte immer wieder die Bälle in die Tiefe zu spielen, schloss auch mehrfach selbst ab. In der 95. Minute jagte er dann einen Freistoß bockstark ins lange Eck und schrie seinen ganzen Frust in den Nachthimmel von Sotschi.
Mit dem 2:1 hat Deutschland nun gegen Südkorea das eigene Schicksal weitestgehend in der Hand. Gewinnt die DFB-Elf gar deutlich, kann sich Schweden gegen Mexiko verbiegen, wie es will. Das ist eine gute Ausgangslage für Mittwoch, zumal Südkorea bereits sicher ausgeschieden ist. Dennoch darf das späte 2:1 über Schweden nicht darüber hinweg täuschen, dass Deutschland auch im zweiten Gruppenspiel über weite Strecken keine gute Figur machte. Aber vielleicht war das späte Siegtor ja genau das, was diese Elf gebraucht hat, um sich endlich auf ihre Kernkompetenz zu berufen: eine Turniermannschaft zu sein.
