Wenn Olympische Spiele vor der Tür stehen, machen sich die Nationen gern im Vorfeld den Spaß, ihre Medaillenkandidaten zu zählen. Der Medaillenspiegel wird am Ende schließlich gern als Gradmesser für die Vitalität des eigenen Volkes herangezogen, im Sport, und wenn es besonders gut gelaufen ist, gern auch mal für die gesamte Gesellschaft. Man erstellt Kategorien, um danach dann Hochrechnungen anzustellen.
Eine Kategorie ist die Medaillenhoffnung. Die Medaillenhoffnung ist ein unsicherer Kantonist. Sie schafft es in ihrer Sportart öfter mal aufs Podium, allerdings nicht immer. Wenn sie im Zenit ihrer Schaffenskraft steht, kann sie Großes vollbringen, aber nur dann. Dann gibt es noch so genannte Medaillenbänke. Der Athlet aus diesem Segment fährt, rennt oder springt auch dann aufs Podium, wenn er einen schlechten Tag erwischt. Und die Besten aus diesem Segment, das sind die Goldkandidaten. Sie dominieren ihre Sportart seit Jahren. Sie sind es, die am Ende eine jede Bilanz veredeln, die Eliteeinheit einer jeder Mannschaft.
Jenny Wolf ist eine Goldkandidatin gewesen.
Plötzlich war die Spannung weg
Über 500 Meter hält sie den Weltrekord. Sie ist bereits dreimal Weltmeisterin geworden. Es sind ihre dritten Olympischen Spiele, Zehnte war sie 2002, Sechste 2006 in Turin. Was sollte schon schief gehen. Sie schien auf alle Eventualitäten vorbereitet.
Doch dann kam einer dieser Tage, Fehlstarts der Konkurrenz, ihre ärgste Konkurrentin Beixing Wang versemmelte ihren ersten Lauf. Es lief eigentlich alles gut, vielleicht zu gut, denn plötzlich war die Spannung weg. 38,307 im ersten Lauf sind eine lächerliche Zeit für eine wie sie. Sie hat dann im zweiten Durchgang noch einmal alles probiert, doch um 16 Uhr lief die Koreanerin Sang-Hwa Lee fassungslos durch das Richmond Olympic Oval, 14 Kilometer südlich von Vancouver. Sie hatte Wolf um fünf Hunderstel geschlagen, kurz darauf baumelte Gold um ihren Hals.
"Wir haben Gold verloren"
Man muss sich mittlerweile schon fragen, ob sich die Deutschen Topfavoriten in der Stadt am Pazifik gegenseitig anstecken, und ob so ein Olympisches Dorf wirklich für alle gesund ist. Wie Wolf, 31, die nicht weniger als Platz eins von sich erwartete, waren am Abend zuvor auch die Eistänzer Aljona Savchenko und Robin Szolkowy mit der Bürde eines designierten Olympiasiegers nicht zurecht gekommen. Auch für sie hatte nur der Titel gezählt. Ihr Trainer Ingo Steuer konnte sich das Maleur seiner Schützlinge nicht erklären, und auch Wolfs Coach Thomas Schubert konnte nicht mit Gründen für den Einbruch dienen: "Das müsst ihr sie schon selbst fragen. Wir haben heute Gold verloren."
Noch im Training vor einer Woche sei seine Jenny 37,90 Sekunden gelaufen, ohne an die eigenen Grenzen gegangen zu sein. Jenny Wolf stand daneben, die Augen waren noch ein bisschen rot, dabei ist der große Tränenschwall noch gar nicht gekommen. Sie erwartet ihn noch, wahrscheinlich ist es schon in der Kabine so weit gewesen. Sie blickte müde drein, man hatte dieses Gesicht erst vor kurzem gesehen, am Abend davor im Pazific Coliseum. Damals hatten die beiden Paarläufer Savchenko und Szolkowy tapfer versichert, sie würden ihre Bronzemedaille irgendwann schätzen. Jenny Wolf sagte: "Ich freue mich über Silber erst mal." Es klang auch bei ihr eher autosuggestiv, wie ein Wall gegen all die Enttäuschung. Man sah ihr an, wie sehr ihr dieses Gold in den nächsten Wochen fehlen wird. Es ist ein Gold, das eine ganze Mannschaft fest eingeplant hatte.