Der Schachsport wird gerade von einem beispiellosen Skandal durchgeschüttelt. Im Mittelpunkt: Magnus Carlsen, amtierender Weltmeister, und der gerade einmal 19 Jahre alte US-Amerikaner Hans Moke Niemann. Beide trafen beim Julius Bär Generation Cup aufeinander, einem Online-Turnier, bei dem eingeladene Spieler von überall auf der Welt teilnehmen können. Bei den Partien schalten die Spieler ihre Webcams ein und werden während der Spiele gefilmt.
Das Aufeinandertreffen von Carlsen und Niemann endete jedoch mit einem Eklat. Niemann, mit den weißen Figuren, begann die Partie mit einem Bauernzug, Carlsen eröffnete mit einem Springer. Doch als Niemann mit der nächsten Bauernbewegung antwortete, gab der Weltmeister urplötzlich auf und kappte seine Videoverbindung.
Das bizarr anmutende Verhalten war keineswegs eine jener Schrullen, für die professionelle Schachspieler durchaus bekannt sind. Seine Weigerung, gegen Niemann zu spielen, hat eine Vorgeschichte. Schon Anfang September hatte sich Carlsen nach seiner Niederlage gegen Niemann aus einem Präsenz-Turnier in St. Louis zurückgezogen. Ebenfalls kommentarlos, ohne seine Beweggründe dafür offenzulegen. Auf Twitter stellte er lediglich das Video eines alten Interviews mit Fußballtrainer José Mourinho online: "Ich ziehe es vor, nichts zu sagen. Wenn ich etwas sage, komme ich in große Schwierigkeiten, und ich möchte nicht in Schwierigkeiten kommen."
Betrugsverdacht ohne ihn konkret zu äußern
Was Carlsen damit offenbar insinuieren wollte, ohne es konkret auszusprechen: Mit Niemann und seinem Spiel stimmt etwas nicht.
Schon damals überschlugen sich die Spekulationen. Großmeister Hikaru Nakamura, ein Schach-Influencer mit einer gewaltigen Follower-Schar, vermutete, Carlsen habe das Turnier verlassen, weil er glaube, dass Niemann betrogen habe. Im Internet begann daraufhin eine Hexenjagd sondergleichen auf den jungen US-Amerikaner. Erst recht, als er zugeben musste, bei Online-Partien auf dem Schachportal chess.com zwei Mal beim Cheating, also dem Benutzen unerlaubter Hilfsmittel, erwischt worden zu sein.
Fast scheint es so, als ob Carlsen seinen Widersacher mit dem kalkulierten Eklat beim Generation-Cup endgültig als Betrüger denunzieren wollte. Doch überraschenderweise ist es nicht Niemann, der inzwischen am Pranger steht, sondern der Weltmeister selbst. "Die Schachwelt ist im Schockzustand", befand Experte Atle Grönn beim norwegischen Sender NRK: "Magnus hat eine Bombe gezündet. Er macht etwas, was es auf diesem Level noch nie gegeben hat."
Unisono wird Carlsen aufgefordert, endlich klar Stellung zu beziehen und Beweise für seinen mutmaßlichen Betrugsverdacht gegen Niemann auf den Tisch zu legen. Der ungarische Großmeister Peter Leko zeigte sich "sprachlos", der britische Großmeister David Howell befand, es seien "einfach bizarre, bizarre Zeiten. US-Großmeister Maurice Ashley twitterte: "Das ist schockierend und beunruhigend. Niemand kann glücklich sein, dass das in der Schachwelt passiert. Unglaublich."
Die Internationale Meisterin Jovanka Houska, Kommentatorin bei dem Online-Turnier, brachte es auf den Punkt: Carlsen habe "mehr Öl ins Feuer gegossen. Er kann nicht einfach sagen: 'Ich glaube, du hast betrogen' und damit eine Hexenjagd provozieren. Er muss sagen: 'Hier ist mein Beweis'." Und Paul Meyer-Dunker, Präsident des Berliner Schachverbands, appellierte an das Verantwortungsbwewusstsein des Weltmeisters. "Anstatt sich zu äußern, beschließt Magnus Carlsen, Hans Niemann auf eine Art und Weise unter den Bus des Internetmobs zu werfen, die es ihm unmöglich macht, sich fair dagegen zu verteidigen."
Betrug ist beim Schach kein Kavaliersdelikt
Um die Dimension des Skandals zu verstehen, muss man in Betracht ziehen, dass Betrug beim Schach kein Kavaliersdelikt darstellt, sondern eine Gefahr, die die Sportart im Kern bedroht. Das Spiel der Könige bezieht seinen Reiz daraus, dass sich zwei Menschen am Brett gegenübersitzen, und allein die Brillanz ihres Verstandes über Sieg und Niederlage entscheidet. Ein Duell Mensch gegen Maschine will niemand mehr sehen, weil längst klar ist, dass leistungsfähige Computer mit ihrer Rechentiefe in allen Partien den Sieg davon tragen.
Deshalb werden Spieler inzwischen auch bei großen Turnieren abgetastet und wie am Flughafen nach technischen Hilfsmitteln gescannt. Handys im Zuschauerraum sind tabu, am Brett sowieso. Auch werden Züge mitunter mit 15 Minuten Verspätung übermittelt, ein möglicher Komplize, der dem Mann am Brett mittels elektronischer Hilfsmittel einen Hinweis geben will, wird dadurch ausgebremst.
Niemann räumt zwei Betrugsmanöver ein
Die Vorwürfe von Carlsen gegen seinen junge Widersacher sind auch deshalb so brisant, weil Niemann zuletzt einen rasanten Aufstieg erlebt hat, sich im vergangenen Jahr auf der Weltrangliste um 150 Plätze verbesserte. Allerdings gehören zu seiner Karriere auch die beiden Betrugsnachweise auf chess.com. Niemann gibt inzwischen zu, als Zwölfjähriger und als 16-Jähriger in Partien Computerhilfe gehabt zu haben. Niemals jedoch "on the board", am klassischen Schachbrett. "Das war der größte Fehler meines Lebens, ich schäme mich dafür."
Auffällig bei seinem Karriereschub ist allerdings ebenfalls, dass er seine spektakulärsten Erfolge in Partien gezeigt hat, die live übertragen wurden, während er bei Nicht-Live-Partien seltener so brilliant aufspielte. Ein Indiz für Hilfe von außen?
Für Niemann ist die durch Carlsens Verhalten entstandene Situation existenzbedrohend. Jedenfalls, solange der Weltmeister seine Vorwürfe nicht offen ausspricht. Es passt zu dieser bizarren Geschichte, das der Turnierverlauf beim Generations-Cup die beiden Kontrahenten womöglich noch ein weiteres Mal am Brett zusammenführt. Nach den bisherigen Partien ist nicht ausgeschlossen, dass es in den Playoffs erneut zu einem Aufeinandertreffen von Carlsen und Niemann kommt.
Mal abwarten, ob Carlsen die Partie dann bis zum Ende spielen wird.