Es war im Süden, in irgendeinem Kaff im Sommer 1997. Ein magischer Sommer, hieß es. Jan Ullrich fuhr bei der Tour de France im Gelben Trikot, die Nation drehte durch, "Ein Deutscher in Gelb". Ullrich führte damals Tagebuch für den stern, und also saßen wir beinahe jeden Abend zusammen, und er erzählte. Monoton, ohne Schnörkel. Er sagte etwa, dass er nichts wahrnehme außer der Straße. Frankreich, selbst damals in seinem Sommer, war für ihn ein graues Band aus Asphalt. Ein 4000 Kilometer langes Band.
Im Jahr zuvor, bei seiner ersten Tour, war er Zweiter geworden, hinter dem stoischen Dänen Bjarne Riis. Aber dieser Sommer gehörte ihm und Team Telekom. Erik Zabel im Grünen Trikot des besten Sprinters, Ullrich an der Spitze. Sie dominierten diese Rundfahrt, die französischen Reporter nannten die Telekom-Mannschaft voller Anerkennung "Express", und das hatte nichts von Blitzkrieg-Rhetorik. Wir deutschen Reporter nannten es Phänomen. Wir mochten dieses Team: den schüchternen und scheuen Ullrich, seinen amüsanten Zimmergenossen Jens Heppner, den knorrigen Westfalen Rolf Aldag, den aufrechten Kämpfer Udo Bölts, den emotionalen Zabel, selbst den introvertierten Kapitän Riis, der sich für Ullrich opferte.
Es war ein bisschen wie ein Familienausflug. Nach den Etappen, selbst nach den schwersten Berg-Touren, gingen wir im Ziel auf die Fahrer zu. Die hatten bis zu 250 Kilometer in den Beinen, einen wunden Hintern, aber sie sagten: "Sehen wir uns später im Hotel?" Wir verglichen sie manchmal mit Fußballprofis und waren einig: Gute Jungs, vergleichsweise. So klar, so unverstellt, so freundlich. Keine Mimosen, nicht einer. An einem dieser Abende, irgendwo im Süden, irgendwo am Rand der Pyrenäen, saßen wir zusammen mit Udo Bölts. Er war müde, aber ganz entspannt. Wir tranken ein Bier, und dann stand er auf und sprach: "Darf ich Euch mal was zeigen?" Er schlappte in sein Zimmer, holte einen Block und sagte "Ich schreibe nämlich." Dann las er vor. Es waren sehr persönliche Gedanken über Schmerz, Leidenschaft, Kraft, Liebe, die Tour de France, Ängste auch. Es waren kraftvolle, emotionale Worte.
Es war der persönlichste Moment der gesamten Tour.
An diesem Abend redeten wir mit Udo Bölts über Gott und die Welt und auch Doping. Er sagte, "niemals" und nannte den eine Woche zuvor des Dopings überführten Usbeken Abduschaparow einen Lügner und Betrüger. Nun, mit vielen Jahren Verspätung kommt heraus, dass Udo selbst gelogen und betrogen hat.
Das schmerzt.
Ob nun als Teil des Systems oder nicht sei dahingestellt. Macht aber auch keinen Unterschied. Wenn wir seinerzeit hätten wetten müssen auf Radprofis, die unserer Ansicht nach sauber oder halbwegs sauber waren - Udo Bölts und auch Rolf Aldag wären gewiss dabei gewesen. Ullrich auch. Fuhr wie eine Maschine, "Jahrhundert-Talent", nannten sie ihn. War er wohl auch. Denn es hat im 20. Jahrhundert kaum jemand sein Talent derart verschludert wie er. Doping? Wir dachten, alle dachten in diesem magischen Sommer 1997, er habe das nicht nötig. Niemand im Team habe es nötig. Wir lagen falsch.
Manchmal stellte sich an den Abenden nach den langen Etappen auch der Mannschaftsarzt Lothar Heinrich zu den Journalisten. Ein Mann mit jugendlichen Zügen, weichem badischen Akzent und eher leiser Stimme. Er sprach über Kalorien und Energieverbrauch und Kohlenhydrate und Ernährung während der Etappen. Er wirkte wie ein junger, sympathischer Doktor, dem man sich jederzeit selbst anvertraut hätte. Er schaute einem in die Augen.
Heinrich war, wie man nun weiß, Dr. Jekyll and Mr. Hyde.
Alles Schimäre. Lug und Trug. Ende der Illusion. Die magischen Momente der Tour 1996 und 1997 für immer und ewig befleckt. Vielleicht haben wir uns zu schnell blenden lassen. Vielleicht hätten uns viel eher Zweifel kommen müssen. Vielleicht hätten wir uns mehr wundern müssen über den Telekom-Express, der alle in Grund und Boden fuhr, Jan Ullrich vorneweg. Vielleicht. Bestimmt. Heute wissen wir das.
Es ist nur so, dass die Heuchelei im Jahre 2007 mindestens ebenso groß ist wie damals. Wenn sich Peter Becker, Jan Ullrichs Trainer aus Jugendzeiten, nun meldet und angibt, sich schon damals gewundert zu haben über die Leistungsexplosion seines Zöglings ist das grotesk, lächerlich und verlogen. Becker war sicher, dass sein "Ulle" eines Tages die Tour gewinnen würde. Er wollte dann Bücher schreiben über ihn. Becker sonnte sich im Glanz dieses jungen Mannes. Er hielt regelrecht Hof. Vor dem Zeitfahren in St. Etienne saß eben dieser Peter Becker im Foyer des Mannschaftshotels und erzählte und erzählte und erzählte. Er war in diesem Moment der Königsmacher. Doping? "Nie."
Becker, sagt Becker, hat nichts gewusst. Hat sich nur gewundert über ein Wunder, das offenbar viel weniger Wunder war.
Das Wunder währte einen Sommer. "Verdammt, was ist Ullrichs Geheimnis?", fragten die französischen Kollegen. Genau das war sein Geheimnis: "Ich denke nur von Tag zu Tag." Jan Ullrich, 23 Jahre jung, taugte schon damals nicht zum Star in des Wortes klassischer Bedeutung. Er glitzerte nicht, er wollte eigentlich nur seine Ruhe und Rad fahren. Sonst nichts. Das einzige, was glänzte, war sein Ohrring. Ullrich sprach langsam, und lediglich einmal in diesen drei Wochen brach es aus ihm heraus: "Wer Pillen einwirft, hat hier nichts verloren. Das zieht unseren gesamten Sport in den Schmutz. Das kotzt mich unglaublich an." Er wurde laut für seine Verhältnisse, Wut stieg in sein Sommersprossengesicht.
Ein Schauspieler? Wenn ja, ein guter. Alle waren gute Schauspieler. Vielleicht waren sie alle wie Jekyll and Hyde. Wir sind reingefallen auf sie. Vermutlich sind wir auch deshalb reingefallen, weil wir sie mochten - Bölts, Aldag, Zabel und auch Ullrich. Wir glaubten ihnen auch qua Nähe und durch solche Abende wie jenen mit Udo Bölts. Heute, mit dem Abstand vielen Jahren, würde man gerne wissen, was er damals sonst noch so im Block hatte.