Für einen Moment rutscht das Lächeln aus dem Gesicht von Un Yong Kim. Seine Unterlippe biegt nach unten. »Bleiben wir drinnen - da draußen wird ja demonstriert«, sagt der Koreaner.
Vor dem Schlösschen des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) in Lausanne skandieren drei Dutzend Tibeter und ihre Freunde: »Olympiade - für Bejing viel zu schade!« Die brave Demonstration ist Un Yong Kim körperlich zuwider - dabei gibt er sich alle Mühe, nett zu sein. Der 70 Jahre alte Politiker und Geschäftsmann aus Seoul will am 16. Juli zum neuen Präsidenten des IOC gewählt werden. Fünf Kandidaten bewerben sich bei der Vollversammlung in Moskau um das Amt; drei haben reelle Chancen: Kim, der Kanadier Richard Pound und Jacques Rogge aus Belgien.
Demokratie ist ihm fremd
Der Kandidat Kim allerdings verkörpert ein Hauptproblem des IOC: die verlorene Glaubwürdigkeit. Als die Olympia-Bewerber von Salt Lake City um seine Stimme buhlten, besorgte Kim seinem Sohn von den Amerikanern eine Green Card und mehr als 200.000 Mark. Diese erwiesene Bestechlichkeit hätte eigentlich das Ende seiner Funktionärskarriere bedeuten müssen; das IOC beließ es jedoch bei einer »schärfsten Verwarnung«. In den 60er Jahren diente Kim dem autoritären koreanischen General Park Chung Hee als stellvertretender Direktor in dessen Leibgarde. Demokratische Ideale wären in dieser Truppe hinderlich gewesen, die Kim selbst als »paramilitärisch« bezeichnet. Er sieht darin aber nichts Verwerfliches, »weil sich das Land im Kriegszustand befand«.
Kim schaut meist verschlossen bis missmutig drein. Doch für den Wahlkampf geht er in die Charme-Offensive. Dem Deutschlandfunk will er beweisen, wie sehr er deutsche Kultur schätzt und singt ins Mikrofon: »Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum.« Er müht sich, sein Programm für den Weltsport überzeugend vorzustellen. Aber es wimmelt von rhetorischen Versatzstücken, die sich teilweise widersprechen. Einerseits plädiert er für bodenständigere Spiele. Andererseits will Kim die von Sponsoren gehätschelte Sportart Golf ins olympische Programm aufnehmen. Die 122 wahlberechtigten IOC-Mitglieder ködert er mit dem Versprechen, die angenehmen Reisen in olympische Bewerberstädte wieder einzuführen.
Was reizt einen wie ihn an dem Amt? Der neue Boss muss so wohlhabend sein, dass er die nächsten acht Jahre auf ein Gehalt verzichten kann. Auf ihn wartet ein ehrenamtlicher Fulltime-Job. Doch der Herr auf dem Olymp bekommt dafür überall einen Termin: bei George W. Bush, beim Papst, bei Jürgen Schrempp. »Der Präsident des IOC sitzt an der Schaltstelle zwischen Sport und Wirtschaft, Kultur und Politik«, sagt der deutsche Vizepräsident Thomas Bach.
Verkauf der Ideale
Als Juan Antonio Samaranch vor 21 Jahren IOC-Boss wurde, war die olympische Bewegung annähernd pleite, und der Sport stand unter dem Diktat der Politik: Der Westen boykottierte die Spiele in Moskau. Heute hat der olympische Sport die ganze Welt erobert; an den Jahrtausend-Spielen in Sydney nahmen 199 Nationen teil. Aufs Jahr gerechnet nimmt das IOC gut zwei Milliarden Mark ein. »Samaranch könnte vor jedem Aufsichtsrat bestehen«, urteilt Helmut Digel, Sportwissenschaftler aus Tübingen und langjähriger Leichtathletik-Funktionär. »Wäre das IOC ein Wirtschaftsunternehmen, würde man ihn nur loben.« Stimmt: In seiner Ära ist der Sport reich geworden. Aber er hat seine Ideale verkauft.
Kandidat Richard Pound aus Kanada hat ein Dutzend Zuhörer um sich geschart. Der 59 Jahre alte Jurist spricht klar, hört konzentriert zu. Seine Augen sind ständig in Bewegung. Gern zieht er ironisch eine Braue hoch. Pound wippt auf den Fußballen, aber trotz aller Bewegung wirkt der ehemalige Olympiaschwimmer stabil wie eine Eiche. Der Mann ist Teilhaber einer der größten Anwaltskanzleien Kanadas. Dem IOC hat er zu Millionen-Einnahmen von amerikanischen Sponsoren und Fernsehgesellschaften verholfen. Er selbst trägt eine Plastikuhr.
Hauptaufgabe: Vertrauen schaffen
Der Kanadier leitete die Kommission, die den Bestechungsskandal von Salt Lake City aufgearbeitet hat. Und er führt die Anti-Doping-Agentur, mit der das IOC seit eineinhalb Jahren endlich versucht, den biochemischen Betrug im Leistungssport ernsthaft zu bekämpfen. »Wir müssen unter den Athleten wieder das Vertrauen schaffen, dass Betrüger erwischt werden«, sagt Pound. Im Kampf gegen das Doping sieht er die Hauptaufgabe für den nächsten Präsidenten. »Ich will nie zu meinem Enkel sagen müssen: 'Trainier nicht für Olympia, das schadet deiner Gesundheit.'« Im Sport sieht er ein Mittel zur Erziehung der Weltjugend. »Was du im Sport lernst, überträgst du auf alle anderen Gebiete. Am Ende meiner Amtszeit möchte ich erreicht haben, dass alle IOC-Mitglieder als überzeugende Vorbilder persönlicher Integrität gelten.« So klar Pound seine Gedanken formuliert, so kantig sagt er auch seine Meinung. In einer großen Organisation wie dem IOC ist das ein Nachteil. Zu viele fürchten seine selbstbewusste Unabhängigkeit. Der Kandidat Pound heuchelt nicht den demütigen Bewerber. Deshalb könnte die Wahl am 16. Juli so ausgehen: In der ersten Runde scheiden die beiden Außenseiter aus, die amerikanische Alibi-Frau Anita Defrantz und der Ungar Pál Schmitt. Als Nächster muss Pound aus dem Rennen, weil er in Afrika und Asien zu viele Gegner hat. Und wenn es gut geht, verhelfen die Stimmen der Pound-Unterstützer am Ende Rogge zum Sieg über Un Yong Kim.
Der Belgier ist 59 Jahre alt und praktiziert als Chirurg in Gent. Er war Weltmeister und Olympiateilnehmer im Segeln. Der belgische König hat ihn zum Ritter geschlagen. Am Revers trägt er die olympischen Ringe in Gold. Aber so klein, dass man sie leicht übersieht. Auch in der Bar des »Palace«-Hotels in Lausanne, in der viele Olympier auf IOC-Kosten picheln, ist der schlanke Herr mit der Goldrandbrille im schmalen Gesicht nicht zu sehen. »Wenn ich etwas kaufen könnte, wäre es Zeit«, stöhnt der Kandidat. Seit dem Frühjahr vergangenen Jahres ist er nicht mehr gesegelt, sein Boot hat er verkauft. Viertelstündige Sitzungspausen nutzt er, um schnell am Telefon ein Interview zu geben. Geschmeidig macht Rogge im Hintergrund seine Termine: Er will vor Moskau möglichst viele olympische Parlamentarier treffen, um sie im Gespräch für sich einzunehmen. Gern verabschiedet er sich mit einem verschwörerischen Augenzwinkern. »Ich bin Experte darin, Menschen zu gewinnen«, sagt der Kandidat, schiebt aber gleich scheinbar bescheiden hinterher: »Das sagen andere über mich.« Der Fundamentalkritiker des IOC, der englische Journalist Andrew Jennings, urteilt über den glatten Kandidaten: »Rogge ist stets bereit, seine perfekten weißen Zähne zu zeigen. Aber in der Vergangenheit hat er nichts über Reformen gesagt.« An Rogges Integrität aber zweifelt niemand. In seiner 25-jährigen Funktionärskarriere kam nie der Verdacht auf, er habe sich durch seine Ämter bereichert. Rogge hat nie eine olympische Bewerberstadt besucht, bevor sie den Zuschlag bekam.
Samaranch will Rogge
Offiziell gibt sich Juan Antonio Samaranch im Kampf um seine Nachfolge neutral. Doch hinter den Kulissen zieht er Strippen für seinen Wunschkandidaten. Und der heißt Rogge, wie ein Insider hinter vorgehaltener Hand erzählt. Pound ist dem Spanier zu geradlinig, und Kim hat er eine diplomatische Ohrfeige versetzt: Als er zur Abschiedstournee durch sein Weltreich aufbrach, sagte er den fürs Frühjahr geplanten Besuch in Korea ab.
Am 16. Juli entscheidet die olympische Vollversammlung über die Zukunft des Weltsports. »Ich habe noch nie verloren«, tönt Kandidat Kim vor der Wahl. »Das IOC muss die Führung im Kampf gegen das Doping übernehmen«, fordert Kandidat Pound. Und Kandidat Rogge sagt: »Der Sport muss wieder glaubwürdig werden.«
Von Johannes Schweikle