Oleksandr Usyk wirkte auf der Pressekonferenz vor dem Kampf gegen Anthony Joshua an diesem Samstagabend im saudi-arabischen Dschidda (23 Uhr/DAZN) wach, konzentriert und fit. Das Face-off-Ritual, bei dem sich die Boxer Auge in Auge gegenüberstehen, absolvierten beide Schwergewichtler, ohne mit der Wimper zu zucken. Gleich danach stimmte Usyk ein ukrainisches Volkslied an, das seit dem Kriegsbeginn äußerst populär ist. Mit seiner Stirnlocke auf dem ansonsten kahlrasierten Schädel und dem langen Schnauzer präsentierte sich Usyk als angriffslustiger Kosake. Er trug dazu das passende Kostüm.
Was in diesem Moment auf manchen Beobachter folkloristisch wirkte, ist bitterernst gemeint. Usyk, der Schwergewichtsweltmeister, kämpft für ein ganzes Land. Das ist die Rolle, die er selbst gewählt hat. Er tritt für eine freie Ukraine an, für ein Land, dass sich gegen die russische Aggression zur Wehr setzt, so gut es eben geht. Der Titelkampf wird in der Ukraine frei im TV übertragen. Usyk wollte ursprünglich die Übertragungsrechte selbst kaufen, damit das möglich wird. Am Ende bekam er sie von den Saudis geschenkt. Bei anderen Presseterminen trug er ein T-Shirt in den Landesfarben mit der Aufschrift "Colors Of Freedom" (Farben der Freiheit). Das Boxspektakel, das offiziell den sperrigen PR-Titel "Rage on the Red Sea" trägt, ist in dem Land ein nationales Ereignis in Zeiten des Leids.
Oleksandar Usyk: Eine Geschichte wie eine Heldenerzählung
Usyks Geschichte eignet sich perfekt als Heldenerzählung. Vor knapp einem Jahr entriss er dem aufsteigenden Superstar Anthony Joshua überraschend die Titel der Verbände WBA, WBO und IBF. Es war ein klassischer Favoritensturz. Usyk war aus dem Cruisergewicht aufgestiegen und hatte erst drei Schwergewichtskämpfe absolviert. Er ist mit 1,91 Metern kleiner und leichter als 1,98-Meter-Mann Joshua. Aber an diesem Abend im Stadion der Tottenham Hotspur in London war der Ukraniner seinem britischen Kontrahenten in allen Belangen überlegen. Mit überragender Technik und viel Tempo erteilte er dem Briten eine Lehrstunde und siegte einstimmig nach Punkten. Jetzt folgt der Rückkampf, diesmal gilt Usyk als Favorit.
Dass das Duell in der Wüste stattfindet, war lange offen. Usyk wollte Kiew nach Beginn des Krieges nicht verlassen. Schon einmal war er von den Russen vertrieben worden. Usyk stammt von der Krim, wo er aufwuchs und lebte, bis die Russen 2014 die Halbinsel einnahmen und zu russischem Staatsgebiet erklärten.
Als die russische Armee am 24. Februar 2022 erneut eine Heimat einfiel, habe er geweint. Der Kriegsbeginn fiel auf den Geburtstag seiner zwölfjährigen Tochter und er meldete sich für ein Freiwilligen-Bataillon: "Ich habe jeden Tag darum gebetet, dass mich niemand tötet und dass ich auf niemanden schießen muss", sagte Usyk über diese Zeit.
Besuch bei verletzten Soldaten ändert alles
Der Plan, seine Heimat zu verteidigen statt erneut in den Ring zu steigen, habe sich verändert, nachdem er ein Krankenhaus mit verletzten Soldaten besucht habe, berichtete Usyk Journalisten. Die Soldaten "baten mich, ja sie flehten mich regelrecht an zu gehen, um noch einmal gegen Joshua in den Ring zu steigen und damit auch für unser Land anzutreten. Sie sagten mir, dass ich der Nation damit noch mehr helfen würde, als wenn ich zu Hause in Armeeuniform gegen Russland kämpfe." Auch die früheren Weltmeister Vitali und Wladimir Klitschko wirkten in diesem Sinne auf Usyk ein.

Ende März reiste er mit einer Sondergenehmigung nach Polen aus. Von dort ging es für drei Monate nach Dubai, um sich auf den Kampf vorzubereiten, während Joshua in London schuftete. Usyk hatte nicht nur ein Ziel vor Augen, sondern endlich auch Antworten auf die Fragen seiner drei Kinder. Die wollten von ihrem Vater wissen, warum jemand sie töten wolle. "Ich erkläre ihnen dann, dass die Russen das wollen, weil sie schwache Menschen sind", sagte Usyk. "Und das ist auch der Grund, warum sie den Krieg nicht gewinnen werden. Wir sind stärker als sie."
Der Ukraine-Krieg überlagert bei diesem Spektakel ein anderes Thema, über das die saudischen Veranstalter nicht so gern reden: die Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land. Selbstverständlich ist der Boxkampf des Jahres auch Teil einer "Sportswashing-Kampagne" der Scheichs, wie die Deutsche Presseagentur zu dem Thema anmerkte. Dazu passt die gewaltige Börse, die die beiden Boxer für den Kampf in der King Abdullah Sports City Arena einstreichen. Sie soll je zwischen 50 und 60 Millionen Dollar liegen. Offiziell wird zu dem Thema geschwiegen.
Quellen: DPA, Eurosport, "Welt", n-tv, "box-sport.de"