Am Samstagabend, es war kurz vor Mitternacht, straffte sich Hansi Flick ein letztes Mal und sprach einen ungeheuerlichen Satz im Konferenzraum des Wolfsburger Stadions. "Wir machen das gut. Wir werden die Mannschaft auf das Frankreich-Spiel vorbereiten", sagte Flick, als er gefragt wurde, ob er damit rechne, weiterhin Trainer der deutschen Nationalmannschaft bleiben zu dürfen. Zuvor hatte er schon behauptet: "Ich bin der Richtige."
Wer Flick länger begleitet, ist kühne Text-Bild-Scheren gewohnt, also Worte, die nicht zum sichtbaren Geschehen passen. Dieses Mal jedoch hatte Flick die Schere allzu weit geöffnet. Es grenzte an Realitätsverweigerung, was der 58 Jahre alte Fußballlehrer da in die Mikrophone sprach nach dem 1:4 gegen Japan. Die Partie war nicht weniger als ein Offenbarungseid, eine Blamage.
Flick ist der bestbezahlte Nationaltrainer der Welt
Nur einen halben Tag später wurde Flick von jener Wirklichkeit eingeholt, die er tapfer negiert hatte. Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) gab am Sonntagnachmittag die Trennung von Flick bekannt, den der Verband nach vielen Wochen des Zweifelns und Zögerns jetzt doch für den falschen Trainer hält. Beim Spiel gegen Frankreich am Dienstag (21 Uhr, ARD) wird Sportdirektor Rudi Völler gemeinsam mit Hannes Wolf und Sandro Wagner die Nationalmannschaft betreuen.
Womöglich war Flicks am Samstag zur Schau gestelltes Selbstbewusstsein auch nur ein taktisches Manöver, um seine Abfindung in die Höhe zu treiben. Flick besitzt nämlich noch einen gültigen Arbeitsvertrag bis zum Ende der Europameisterschaft 2024. Bei einem freiwilligen Rücktritt hätte Flick alle Ansprüche verloren, nun aber wird er sein Jahresgehalt von angeblich 6,5 Millionen Euro weiter beziehen. Flick gilt als bestbezahlter Nationaltrainer der Welt.
Für den DFB bedeutet die Lohnfortzahlung ein Problem. Der Verband ist klamm, er muss Gelder in zweistelliger Millionenhöhe zurückstellen, weil eine Steuernachforderung des Finanzamts Frankfurt zu erwarten ist. Für die Geschäftsjahre 2014 und 2015 ist dem DFB die Gemeinnützigkeit aberkannt worden, weil er bei Einnahmen aus der Bandenwerbung Steuern hinterzogen haben soll. Hinzu kommen hohe Betriebskosten für den neugebauten DFB-Campus in Frankfurt, ein riesiges Gebäude, über dessen Flure Sattelschlepper rollen könnten, so breit sind sie.
Sehen Sie im Video: DFB entlässt Hansi Flick.

Angespannte Finanzlage erschwert Suche nach Nachfolger
Die angespannte Finanzlage des Verbandes erschwert die Suche nach einem Flick-Nachfolger enorm. Julian Nagelsmann, der vom DFB favorisiert wird, wäre zwar prinzipiell zu haben, da derzeit ohne Mannschaft, doch der 36-Jährige steht noch bis 2026 beim FC Bayern unter Vertrag. Die Münchener hatten Nagelsmann im März dieses Jahres beurlaubt und durch Thomas Tuchel ersetzt. Wie Flick (dem er im Sommer 2021 beim FC Bayern nachfolgte) ist auch Nagelsmann ein Weltrekordhalter: Mehr als 20 Millionen Euro Ablöse zahlten die Münchener an RB Leipzig, um ihn aus seinem laufenden Vertrag zu kaufen.
Die Verpflichtung von Nagelsmann wäre für den DFB nur machbar, wenn die Münchener jetzt ihrerseits auf eine Ablöse verzichten würden. Ob sie das tun? Als Dienst am deutschen Fußball? Schwer vorstellbar, denn erst im Sommer 2021 ließen sie Hansi Flick zum Verband ziehen, trotz eines gültigen Arbeitsvertrags. Und nun die nächste milde Gabe?
Darüber wird auch Karl-Heinz Rummenigge zu entscheiden haben, der sich bei der Personalie Nagelsmann in einer Doppelrolle befindet: Er ist Mitglied der sogenannten DFB-Task Force, die nach der missratenen WM 2022 gebildet wurde, um die Krise aufzuarbeiten. Zudem ist Rummenigge seit Mai in die Führungsspitze des FC Bayern zurückgekehrt, nachdem der Vorstandsvorsitzende Oliver Kahn und Sportvorstand Hasan Salihamidzic entlassen worden waren. Verbandsinteressen und kollidieren hier also mit Vereinsinteressen, und es ist bislang nicht absehbar, welcher Seite sich Rummenigge zuneigen wird.
Niemand weiß, ob Nagelsmann überhaupt Bundestrainer werden will
Zudem ist fraglich, ob Nagelsmann das Bundestraineramt überhaupt reizen würde. Zuletzt hieß es aus der Branche immer wieder, dass Nagelmann auf einen Job in der Premier League lauere. Dazu passt, dass er vor Saisonbeginn Verhandlungen mit dem FC Chelsea führte; zu einer Einigung kam es jedoch nicht.
Nagelsmann hat die Zeit, die Geduld und auch das Renommee, auf ein passendes Angebot warten zu können. Als er beim FC Bayern freigestellt wurde, spielte seine Mannschaft noch in drei Wettbewerben. Sie hatte gerade Paris Saint-Germain aus der Champions League geworfen, stand im Viertelfinale des DFB-Pokals und führte die Bundesliga an. Ein nahezu unbeflecktes Führungszeugnis also.
Zum Kreis der Bundestrainer-Kandidaten zählt auch Oliver Glasner, zuletzt Trainer von Eintracht Frankfurt und Europa-League-Sieger 2022. Gut möglich, dass der 49 Jahre alte Österreicher Flick nachfolgt, wenn die Verpflichtung von Nagelsmann scheitert. Glasner gilt als Pragmatiker in taktischen Fragen, aber als kompliziert im Umgang, schon sein Engagement beim VfL Wolfsburg endete wegen eines Zerwürfnisses mit seinen Vorgesetzten.
Außenseiterchancen besitzt Matthias Sammer, 56, der zuletzt von der Bild-Zeitung ins Spiel gebracht wurde. Womöglich ein Versuch, ihn auf die Trainerbank zu hieven, um einen Verbündeten beim DFB zu haben. Sammer jedoch sieht sich seit einem Schlaganfall im April 2016 nur noch in der Rolle eines Beraters. Er ruft gern Dinge von der Seitenlinie rein, so zuletzt mittels eines Interviews mit der Süddeutschen Zeitung. Er stellte die trübe Diagnose, dass der deutsche Fußball "am Boden" liege und gab Hansi Flick ein paar Tipps für die Spiele gegen Japan und Frankreich. Ob dieser die Ratschläge gelesen hat, scheint fraglich mit Blick auf das 1:4 gegen Japan. Sammer dringt also bei den wichtigen DFB-Leuten nicht durch – auch so kann man das verstehen.