Mit Angela Merkel verbinden sich seit geraumer Zeit zwei Geräusche: ein lautes Stöhnen, dass sie noch da ist. Und ein beruhigter Seufzer, dass sie noch da ist.
Das Stöhnen beklagt den Stillstand, die fehlende Dynamik, die Erschöpfung der Regierung – und in manchen Köpfen ist es Ausdruck einer Projektion für alles, was seit Jahren falsch läuft (Euro, Klima, Migration). Der Seufzer drückt aus, was überall zu fehlen scheint und verloren geht: Maß und Mitte auf einem sich immer mehr polarisierenden Planeten, Ausgleich, Vernunft, Pragmatismus. Man muss nur auf Fotos schauen, auf denen sie mit anderen am Tisch sitzt: Putin, Johnson, Trump, Erdogan.
Gut, dass sie da ist.
Puh, dass sie noch da ist.
Dieser Zwiespalt begleitet vermutlich viele Beobachter, Wähler und Parteimitglieder, und das Verblüffende ist, dass keines von beiden Geräuschen falsch ist, sondern gerade ihre Gleichzeitigkeit die letzten Jahre der Ära Merkel kennzeichnet.
Und ich muss bekennen, dass auch ich zwischen beiden Geräuschen schwanke, mir allerdings einer Sache sicher bin: Es ist eine Illusion zu glauben, dass sich die großen Probleme – Klimawandel, Migration, Ungleichheit, Spaltung der Gesellschaft – wie von Zauberhand lösen werden, wenn "Merkel endlich weg" ist. Und dass es Tage geben wird, an denen wir uns zurücksehnen werden nach ihrer Art und ihren Eigenschaften.
Drei Phänomene kennzeichnen ja diesen Übergang vom Ende der Ära Merkel zu einer neuen, die wir nur erahnen, und es sind teils widersprüchliche Phänomene:
- Das Stabilitäts-Paradox: Gerade die Stabilität, die Merkel lange Jahre verkörpert hat und noch verkörpert, sorgt immer öfter für Instabilität. Je länger sie Deutschland auf Kurs hält, wofür sie gerade das Ausland immer noch schätzt, desto fragiler wird ihre Partei, ihre Bevölkerung und das ganze Land. Deutschland gilt international immer noch als der berechenbare Partner, wird selbst aber immer unberechenbarer (siehe Thüringen). Es brodelt, dampft, zischt, und dann sind viele Deutsche selbst erschrocken, was plötzlich passiert ist oder passieren kann. Parteien lassen sich vorführen, Parteichefs schmeißen hin, und das Land ist mehr von der Rolle als einem lieb ist. Und während viele Medien – auch oft zu laut und zu schrill – schreien, dass alles auseinanderfliegt, sehnt man sich nach Stabilität, die wir unter Merkel doch immer hatten.
- Das Streit-Paradox: Wir haben uns zu wenig gestritten!, lautet ein beliebter Befund, den auch Bundestagspräsident Wolfang Schäuble diese Woche wiederholt hat. Die Große Koalition verwische alles, es gebe keine Trennlinien mehr, keine Lager, nur das große Einerlei und Durchmerkeln. Deshalb gibt es bei vielen in der CDU die Sehnsucht nach Friedrich Merz. Endlich wieder klare Worte, klare Kante. Andererseits scheinen die Gräben so tief wie nie, der Hass so zügellos wie nie, die Mitte so schwach wie nie und die Ränder so stark wie nie. Wir haben offenbar zu wenig richtigen Streit und zu viel falschen Streit. Wir sagen: Ja, bei Herbert Wehner und Franz Josef Strauss, da wurde wirklich noch gestritten, da flogen die Fetzen! Andererseits kann man die fliegenden Fetzen auf Twitter kaum zählen – vermutlich weil der Streit früher am Ende doch in Kompromissen endete, er war nützlich, reinigend, konstruktiv. Heute ist er oft nur eines: zerstörerisch. Er zersetzt, hebt Gräben noch tiefer aus. Danach ist oft nichts gewonnen. Vielleicht, weil das Twittergefecht keine Streitkultur ersetzt. Während wir immer heftiger streiten, haben wir verlernt zu streiten.
- Das Vakuum-Paradox: Das immer noch beträchtliche politische Kapital, dass Angela Merkel besitzt und gerade im Ausland genießt, hat nicht verhindern können, dass Deutschland ein immer größeres Vakuum erzeugt. Emmanuel Macron hat vergangene Woche seinen europäischen Partnern eine Kooperation beim atomaren Schutzschirm angeboten. Zuvor hatte er wiederholt Vorschläge zur Reform der EU und zur Sicherheitsarchitektur des Euro gemacht. Aus Deutschland kam: nichts. Manchmal ein gequältes Jein. Merkel hat Autorität, aber sie setzt sie nicht mehr für neue Ideen ein. Die Krise der CDU war diese Woche sogar der "Financial Times" einen Leitartikel wert, dass die britische Wirtschaftszeitung deutsche Innenpolitik kommentiert, kommt nicht oft vor. Die These ist deutlich: Die Schwäche der CDU ist eine Gefahr für Europa. Wenn diese Volkspartei kippt, wird Deutschland unberechenbar. Ja, die Deutschen gelten immer noch als Stabilitätsanker. Aber wir füllen diese Stabilität nicht mehr mit neuen Ideen und Projekten.
Wie geht's nach Merkel weiter?
So, werden Sie sich fragen, mag ja alles sein – aber wer macht's denn nun? Friedrich Merz, Jens Spahn, Armin Laschet – oder doch Markus Söder? Die Dynamik dieser Entscheidung, das ist klar, kann AKK nicht mehr beeinflussen. Sie hat nur den Weg frei gemacht.
Jens Spahn bleibt der Außenseiter und das junge Talent – geringe Chance. Friedrich Merz ist die größte Wette des bürgerlichen Lagers (kann er von rechts so viel zurückholen, ohne die Mitte zu verlieren?); Armin Laschet die sichere Bank der Mitte, die aber rechts keinen Frieden bringt und keine Idee hat, sondern nur die Option Schwarz-Grün – und ein Loch in NRW reißt. Markus Söder wäre der Joker. Er hat nach Thüringen die besten Worte gefunden und bisher auch zum Richtungsstreit: "Ich glaube nicht, dass die CDU für die Zukunft mit einem Wahlprogramm der Vergangenheit punkten kann", sagt er im Interview mit der "FAZ". Sprich: Atomkraft, Wehrpflicht, Kirche. "Es hat keinen Sinn mit der CDU-Vergangenheit zu brechen. Wer glaubt, dass ein Anti-Merkel-Wahlkampf zum Erfolg führen könnte, der irrt. Ein Bruch mit der eigenen Vergangenheit führt am Ende immer zum Bruch mit sich selbst."
Nur eines scheint mir jetzt schon klarer: Ich würde wieder Wetten abschließen, dass wir noch in diesem Jahr eine Bundestagswahl haben.