Der Mann im dunklen Anzug und mit Aktentasche in der Hand stand ganz ruhig vor der Informationsanzeige im Londoner Bahnhof Victoria. Es war mitten am Tag, um ihn herum eilten Menschen zu Mittagsverabredungen. Der Mann stellte seine Tasche neben sich auf den Boden - und begann zu schreien. Minutenlang, angeblich.
Cornelia Fuchs
London ist der Nabel der Welt und Europa immer noch "der Kontinent". stern-Korrespondentin Cornelia Fuchs beschreibt in ihrer wöchentlichen stern.de-Kolumne das Leben zwischen Canary Wharf und Buckingham Palace, zwischen Downing Street und Notting Hill.
Es sind solche Geschichten, die im Moment in London kursieren, Stadtlegenden des Finanzwahnsinns. Und sie klingen so wahr, weil sie ein Gefühl widerspiegeln, das durch die Stadt vibriert: Es passiert gerade etwas Erdbebengleiches, Unerhörtes. Dabei hat niemand wirklich einen Menschen auf der Straße schreien hören, ganz im Gegenteil ist es auf den Straßen vor den großen Bankhäusern eher ungewöhnlich ruhig. Angestellte eilen mit gesenkten Köpfen an den Mikrophonen der Journalisten vorbei. Kaum einer will reden, und wenn, dann nur, ohne seinen Namen und Arbeitgeber zu nennen. Manchmal rufen einige in Richtung der Kameras: "Es wird alles gut." Und irgendwie klingt das eher nach: "Fragt besser gar nicht erst weiter."
Das Gesicht der Krise
In einer solchen Atmosphäre können Gerüchten zu Fakten werden, mit kaum nachvollziehbaren Folgen. Der Blog des Wirtschaftsjournalisten Robert Peston ist ein Beispiel für eine solche Spekulationslawine. Peston ist in England das Gesicht der Krise geworden. Er hat als Erster vor einigen Monaten von dem Zusammenbruch der Bank Northern Rock gewusst, er hat als Erster über die Übernahme der Hypotheken-Bank HBOS berichtet. Sein Blog ist inzwischen fast so wichtig wie die Börsenkurse, an seinen Worten hängt die ganze Nation.
Am Dienstagmorgen um halb acht Uhr wurde Peston in der Nachrichtensendung "Today" im BBC-Radio interviewt. Er erzählte von einem Treffen der wichtigsten Bankvorstände mit dem Finanzminister. Und davon, dass diese Vorstände "enttäuscht" gewesen seien, dass Alistair Darling ihnen keine konkreten Pläne zur Stabilisierung vorgelegt habe. Peston betonte weiter, dass weder Barclays noch Lloyds TSB im Moment Probleme mit ihrem Geldfluss hätten. Doch sein Kommentar über deren Enttäuschung genügte: Die Kurse der Bankhäuser brachen ein, Lloyds TSB um 26 Prozent, Barclays um 17 Prozent, und die Aktien Royal Bank of Scotland verloren sogar noch mehr an Wert. Und nun hatten die Banken wirklich ein Problem.
Schlechte Zeiten für Kindermädchen
Ein Tag voller Erklärungen und Versprechungen begann und endete in der Nacht zum Mittwoch um fünf Uhr morgens mit einer staatlichen Finanzspritze für die acht wichtigsten britischen Finanzinstitutionen. Die Briten, wie wohl alle in Europa, sehen dem Schauspiel ziemlich fassungslos zu. Erst langsam sickert durch, was das alles für Auswirkungen haben könnte in den nächsten Monaten und Jahren. Privatschulen, zum Beispiel, beginnen hektisch mit größeren Sparmaßnahmen: Heizungen in den Schulgebäuden werden heruntergefahren, die Kantinen eingeschworen, weniger wegzuwerfen, Bauprojekte werden gestoppt. Nach der Rezession Anfang der 90er Jahre verloren Privatschulen 11.500 zahlende Schüler und 150 Millionen Euro Einkommen.
Es sind die Helfer der Reichen, die jetzt um ihre Arbeit fürchten müssen. 110.000 Jobs in der Finanzindustrie sind in den nächsten Monaten gefährdet, heißt es. Und es sind diese Menschen, die Kindermädchen angestellt haben, Gärtner, Köche, Fahrer und Yogalehrer. Die Schockwellen der Finanzkrise haben daher jetzt Clapham erreicht. Der Stadtteil im Süden Londons wird auch "Nappy Valley" genannt, das Windeltal. Hier wohnt der gehobene Mittelstand mit Kleinkindern in Bugaboo-Kinderwagen, die von Supernannys durch die Gegend geschoben werden. Diese gut ausgebildeten Kindermädchen waren bis vor wenigen Wochen noch so heiß umworben, dass sie sich ihre Arbeitgeber aussuchen konnten. Sie verdienten oft weit über 50.000 Euro im Jahr, bei freier Kost und Logis. Jetzt sitzen die ersten in den Cafés in Clapham und fragen sich, ob sie innerhalb von vier Wochen eine neue Wohnung und Arbeitsstelle finden können, wenn sie bei ihrer Familie rausfliegen. Allein in London arbeiten 76.000 Tagesmütter, die sich nun Sorgen um ihren Job machen müssen.
Topbanker sind weich gefallen
Und während in Clapham Notfallpläne entworfen werden, arbeiten bei der ehemaligen Investmentbank Lehmann Brothers die Gewinner der Krise. Genau dort also, wo die Angestellten ihre Habseligkeiten in Pappkartons aus dem Gebäude getragen haben, nachdem die Investmentbank Pleite gegangen war. Nach Informationen der Tageszeitung "The Times" hat die japanische Bank Nomura, die Teile von Lehmann Brothers aufgekauft hat, auch 2500 Angestellte übernommen. Der Großteil der Topbanker aus der Abteilung Europa/Mittlerer Osten hat nahtlos zu Nomura gewechselt.
150 dieser Ex-Top-Lehmann-Angestellten arbeiten in den nächsten drei Monaten daran, den Rest der Investmentbank abzuwickeln - und bekommen dafür, laut "Times", bis zu hundert Prozent ihrer Boni aus dem vergangenen Jahr. Und das waren bis zu sieben Millionen britische Pfund. Die Zeitung zitiert einen Informanten mit diesen Worten: "Die sind vor Frauen und Kindern in die Rettungsboote gesprungen."