Gott, was hätte aus mir werden können, wenn ich nicht so ein hungriges Herz gehabt hätte!
Jede Ablenkung war mir willkommen, Flirten ist ja auch leichter als Fechten, Chatten billiger als eine Cello-Stunde, Google-Fotos des Angebeteten sind schneller abrufbar als ein Besuch im Guggenheim-Museum! Ja, ich wäre vermutlich ohne die Liebe und Laster eine begnadete Harfespielerin oder Eiskunstläuferin oder sogar Ministerpräsidentin geworden - wobei uns Jugendlichen der Zugang zu Kultur und Politik nicht wirklich schmackhaft gemacht wurde. Es war irgendwie cooler, für Google oder Apple zu arbeiten.
Laura Karasek: Tippt die noch ganz richtig?
Ich bin Laura Karasek, 1982 in Hamburg geboren, Rechtsanwältin in einer großen Wirtschaftskanzlei in Frankfurt. Ich liebe Adrenalin, Gedichte, Männer mit Brusthaaren, Prosecco und Abgründe. Und gewinne genauso gern im Casino wie vor Gericht. Wäre ich besser im Singen gewesen (meine Stimme ist so tief, dass ich am Telefon oft mit meinem Vater verwechselt wurde), gäbe es von mir jetzt Platten statt Prozesse. 2012 erschien mein erster Roman "Verspielte Jahre", im Sommer 2015 habe ich Zwillinge bekommen und kurz darauf meinen Vater verloren. Das mit dem Glück ist eben so eine Sache...
Kafka ist kein veganes Currygericht
Schade, denn wir brauchen gute Vorbilder, Politiker, Menschen, die was verändern und bewegen wollen. Die nicht nur zur Wahl gehen, sondern sich der Wahl stellen. Menschen, die noch Zeitung lesen statt Youtube-Videos als Informationsquelle zu nutzen. Menschen, die wissen, dass Kafka kein veganes Currygericht ist und die Van Gogh nicht für eine Marihuana-Sorte halten oder Caravaggio für einen italienischen Modedesigner. Edward Hopper ist nicht Edward mit den Scherenhänden und auch keine Jeansmarke.
Wir suchen aber häufig das Stumpfe. Wir suchen das Gift, das Ungesunde, die Zigarette und den Liebesrausch. Ich habe nur mein Herz fortgebildet - und hätte manches lieber nicht gelernt!
Rebound mit Jim Beam
Haben wir Zweit vertrödelt? Oder gehört das Trinken und Vergiften mit zum Jungsein? Früher, als Studentin, las ich jeden Morgen eine Tageszeitung - ausgedruckt auf Papier. Heute wache ich auf und checke meine Handynachrichten. Und mittags lernte ich. Und abends trank ich - manchmal. Und wenn ich trank, hatte ich immer ein Motiv. Das Motiv hieß Carl oder Stephan. Oder das Motiv war ich selbst: "Wie werde ich mich los - in zehn Schnäpsen?!" Ja, manchmal wollte ich mich loswerden. Oder eben Carl. Carl war aber nicht allein durch einen wie Jim (Beam) loszuwerden. Man brauchte mehr als einen Fer-net und das Inter-net. Am Besten einen Ersatz-Mann, den sogenannten "rebound".
"Rebound - second best, just some person you use to get over the person you just broke up with. They'll never be enough but they can be an okay distraction."
"Du musst Dich wieder selbst finden." Manchmal würde ich mich lieber nicht finden. Ich zahl jedenfalls keinen Finderlohn.
Hauptsache: Bar
Wir trinken auch aus anderen Motiven. Häufig wollen wir wach werden, manchmal müde. Mit Leib und Kehle. Den Moment des Einschlafens verpassen.
Liebe und Alkohol - die zwei besten Treibmittel für den freudigen Selbstzerstörer! Sie wollen sich quälen und suchen Inspiration? Trinken sie! Durcheinander! Und belügen Sie sich selbst, wenn es um unerreichbare, hoffnungslose Liebschaften geht! Er will sie nicht wiedersehen? Inszenieren Sie ein zufälliges Treffen, in dem sie ihm vor seinem Büro auflauern! Warten Sie draußen. Lange. Setzen Sie sich auf die Stufen mit einer Zeitung und einer Flasche Wein und lungern Sie herum, bis er herauskommt!
Irgendwann wird er ja mal Feierabend haben - auch wenn er auf Ihre letzten acht Nachrichten nicht geantwortet hat. Er WILL Sie. Er ist nur "busy". Wir halten den Menschen für veränderbar, uns für unbesiegbar, unbetrinkbar. Hauptsache: Bar. Genauso wie wir Champagner und Prosecco für belebend haltend, "ich brauche das für den kreativen Prozess", wir halten Zurückweisung für ein "Spielchen", wir würdigen unseren Averna und Grappa nach dem Essen "das hilft der Verdauung", wir trinken oft gegen irgendetwas an, gegen die Zeit, gegen die Schmerzen, gegen die Schmerzlosigkeit, die Taubheit, gegen das fette Essen, gegen den Hunger, gegen den Schlaf, gegen die Schlaflosigkeit.
Keine Lösung
Ja, die Selbstzerstörung. Die Sehnsucht nach dem eigenen Abgrund, an dem Selbstliebe und Selbsthass sich auf dem Gipfel des Giftes treffen. Dabei sollen wir doch AUF etwas trinken!
Heute trinke ich auf: Frieden, soziales Engagement, Sicherheit, Freude an Bildung, mehr Bewusstsein, Verständnis, Zusammenhalt und mehr Begeisterung für die Zukunftsgestaltung. Kein Alkohol ist auch keine Lösung! Und nicht Wählen gehen ist auch keine Lösung.
Und keine Liebe ist auch keine Lösung.