Tania Boler, 44, kommt aus Großbritannien. Als sie schwanger wurde, siedelte sie mit ihrem französischen Ehemann für eine Weile in dessen Heimatland um – und war überrascht, als es in den Geburtsvorbereitungskursen plötzlich um das Thema Beckenboden ging. In England hatte nie jemand mit ihr darüber gesprochen, was bei der Geburt mit der Beckenbodenmuskulatur passiert, welche Probleme dadurch entstehen können und wie man diese beheben kann. Sie wollte nicht länger hinnehmen, dass derart wichtige Themen gesellschaftlich so vernachlässigt werden. So entstand die Idee, das Unternehmen Elvie zu gründen.
Frau Boler, was hat Sie veranlasst, sich gerade in diesem Bereich zu engagieren?
Ich arbeite schon lange in Bereichen, die zuvor vernachlässigt wurden und als Tabu galten, weil sie mit sexueller Gesundheit zu tun hatten. Meine eigene Kindheit wurde von gesundheitlichen Problemen geprägt, darum hat mich das aus ganz persönlichen Gründen interessiert. Ich habe mich für alles – vom Zugang zu sicheren Abtreibungen bis hin zur HIV-Prävention, vor allem in Afrika und Asien – eingesetzt, meine Abschlussarbeit an der Uni hatte ich vorher über das Thema "HIV und Schwangerschaft" geschrieben. Ich habe also lange in der Forschung und mit Regierungen zusammengearbeitet und war irgendwann zunehmend frustriert, dass, wenn es um Gesundheitsförderung geht, alles sehr langsam vorangeht. Da habe ich erkannt, dass Technologie das Potenzial hat, diese altmodischen Wege aufzubrechen.
Als ich mit meinem ersten Baby schwanger war, habe ich in Frankreich einen Pilates-Kurs gemacht und das erste, das der Trainer mir sagte, war: "Tania, das Wichtigste ist, dass du dich jetzt um deinen Beckenboden kümmerst!" Und ich wusste zu diesem Zeitpunkt fast nichts über den Beckenboden. Ich fing an, mich zu informieren und war völlig geschockt – und ehrlich gesagt richtig wütend –, als ich die Statistiken gesehen habe. Eine von drei Frauen hat Blasenprobleme, die Hälfte der Frauen hat irgendwann einen Prolaps (Gebärmuttervorfall, Anmerkung der Redaktion), eine von zehn Frauen muss irgendwann deswegen operiert werden. Es ist eine unsichtbare Epidemie. Ich kam aus der Wissenschaft und stand hier vor Fakten: Wenn man Frauen dazu bekommt, den Beckenboden zu trainieren, kann das einen wirklichen Unterschied machen.
Weshalb wurde das Thema Frauengesundheit von der Technologiebranche Ihrer Meinung nach bisher so stiefmütterlich behandelt?
Ich habe relativ früh bemerkt, dass das ein kulturelles Problem ist. Besonders in Großbritannien liegt so viel Fokus auf dem Baby, und nicht besonders viel auf der Mutter. Es ist ein bisschen besser in Deutschland. Aber vor allem in Frankreich: Mein Mann ist Franzose und dort werden Frauen dabei unterstützt, nach der Geburt wieder einen gesunden Beckenboden zu bekommen. Dennoch wird Frauengesundheit generell weltweit sehr missachtet. Wenn man auf Forschung und Geldflüsse schaut, drehen sich weniger als vier Prozent der Projekte um Frauengesundheit. Diese Missachtung betrifft alle Aspekte: Innovation, Forschung, Investorengelder, es gab dafür nicht mal einen Namen, als ich vor sieben Jahren in diesen Bereich eingestiegen bin. Jetzt haben wir immerhin den Begriff "FemTech". Ich glaube, das ist sehr positiv – wenn es einen Namen und eine Kategorie für etwas gibt, macht es das in den Köpfen der Menschen begreifbarer.
Warum wollten Sie das Thema aus der Tech-Perspektive angehen?
Also, ich habe dieses große Problem gesehen und begriffen, dass Technologie hier die größte Verbesserung bewirken könnte, ich komme ja auch aus dem medizinischen Bereich. Was Elvie so besonders macht – und was die Zukunft für jede Gesundheitstechnologie sein kann, ist Produkte zu entwerfen, die weniger den Ärzte-Patienten-Bereich bedienen, sondern mehr für die Benutzerin gedacht sind. Medizinische Gerätschaften sind meist sehr pragmatisch designt und, besonders wenn es um die Vagina geht, nicht gerade komfortabel. Sie sind zu groß, zu hart, man will nicht auf einem Bett liegen und mit Elektronen prodded werden, an einen Monitor angeschlossen. Ich habe das als ein leeres Blatt Papier betrachtet: Ich bin eine Frau, ich habe wenig Zeit, wann mache ich also mein Beckenbodentraining? Ich will dabei zuhause sein, stehen oder laufen, nebenbei andere Sachen tun können, ich will, dass es Spaß macht. Also haben wir etwas entworfen, dass die Benutzerin in den Fokus rückt.

Unterscheidet sich ein Unternehmen wie Ihres von einem "gewöhnlichen" Start-up?
Wenn du etwas Neues kreierst, musst du den Leuten auch entsprechendes Wissen dazu vermitteln – und die Einstellung der Gesellschaft verändern. Du musst den Fokus vom Negativen, von Gesundheitsproblemen – Blasenschwäche, Probleme mit der Gebärmutter – hin zum Lifestyle schieben. Denn diese Dinge sind ein normaler Teil davon, eine Frau zu sein. Alle Frauen sollten über Beckenbodentraining als Part ihres Sportprogramms nachdenken, es in ihre alltägliche Routine einbauen. Wir haben darauf geachtet, mit welchen Worten wir darüber sprechen, wie wir unser Marketing angehen und mit welchen Technologien wir etwa unseren Beckenbodentrainer zu einem Produkt machen können, das spaßig und leicht zu benutzen ist.
Nachdem wir den Beckenbodentrainer herausgebracht hatten, fiel uns allerdings auf: Alle Technologie im Bereich Frauengesundheit war schrecklich designt! Was dabei am stärksten heraussticht, ist die Milchpumpe. Die Dinger sind fürchterlich! Stellen Sie sich vor, eine Frau hat gerade ein Baby bekommen, ist müde, soll dann so ein Gerät an ihrer Brust anbringen, das vor hundert Jahren mal von Kuhmelkmaschinen abgeleitet wurde. Laut, schmerzhaft, unangenehm. Einfach ein schreckliches, schreckliches Produkt. Wir dachten uns: Lasst uns ganz von vorn anfangen und uns überlegen, wie eine Milchpumpe sein müsste, damit sie Frauen die bestmögliche Erfahrung bietet.
Sie sagten gerade, dass sowohl der Bereich als auch der Begriff "FemTech" sehr neu sind. Dabei machen Frauen die Hälfte der Bevölkerung aus, sind also eine riesige Zielgruppe. Wie kann es sein, dass es hier dennoch jetzt erst wirkliche Bemühungen zu geben scheint?
FemTech ist gerade einer der spannendsten Bereiche, hier kann man wirklich etwas bewegen. Ich glaube, es gab eine Menge Stereotype zu Frauen und der Tech-Branche. Tech-Companies werden größtenteils von Männern geführt und Männer können Frauengesundheit nur bedingt verstehen. Sie sehen nicht, dass es hier einen echten Bedarf gibt. Und eine beachtliche Chance. Es ist ein nahezu unsichtbares Problem für Männer. Es gab in der Vergangenheit aber auch diese Vorstellung, dass Frauen sich nicht für technische Produkte interessieren. Wenn Produkte designt wurden, ging es stattdessen meist um die Optik – mach' es pink oder lass es wie Schmuck aussehen. Es gab kaum echte innovation.
Ein anderer Punkt: Bei bestimmten Gesundheitsproblemen von Frauen herrscht immer noch ein großes Schweigen, da gibt es Tabus. Als Frauen akzeptieren wir einfach vieles, etwa dass wir einmal in jedem Monat Schmerzen haben, wenn wir unsere Periode bekommen. Wir nehmen hin, dass das zum Frausein dazugehört, aber ich denke, das sollte sich ändern. Frauen müssen einfordern, dass Lösungen für diese Probleme angeboten werden.

Macht es einen Unterschied, wenn solche Produkte von Frauen entwickelt und vertrieben werden?
Ich glaube, dass es für Frauen hilfreich ist, gerade wenn es um solch stigmatisierten Leiden geht, die so intim und sensibel sind, wenn die Person, die darüber redet, selbst eine Frau ist. Es ist authentischer und kraftvoller, wenn das von Frauen ausgeht. Als ich Elvie gegründet habe waren die Meinungen dazu sehr zweigeteilt: Viele Leute dachten, wir wären verrückt, technologische Produkte für die Vagina zu produzieren. Aber ich arbeite mit so vielen leidenschaftlichen, zielstrebigen Frauen zusammen, die genau diese Entschlossenheit mitbringen, die es braucht, um echte Probleme anzugehen.
Was hat Sie trotz dieser anfänglichen Zweifel motiviert, mit Elvie weiterzumachen?
Ich habe an einem Innovationswettbewerb teilgenommen und 100.000 Pfund gewonnen. Ich glaube, das war der Moment, wo ich dachte: Ich hatte da schon eine gute Idee im Kopf, aber jetzt wurde mir das noch einmal offiziell bestätigt. Ein Team von Juroren hat mir gesagt, dass ich richtig liege. Das war ein aufregender Moment. Die Produkte zu entwerfen war dann so viel schwerer, als ich gedacht hatte, speziell jene für den Beckenboden. Denn es ist wirklich immer noch ein Tabuthema. Das Positive ist, dass man die Erfahrung von Frauen mit unseren Produkten verbessern kann. Menschen reden plötzlich mehr darüber. Auch, weil gerade eine mächtige, feministische Welle durch die Gesellschaft schwappt, besonders in den sozialen Medien, bei der Generation Z. Das ist sehr aufregend. Frauen sprechen offener über Dinge, die sie vor zehn Jahren nicht einmal angedeutet hätten.
Die Produkte von Elvie gibt es u.a. bei Amazon, und bald auch bei tausendkind.de und windeln.de.