Die Sprecher von EU-Energiekommissar Günther Oettinger geben sich immer äußerste Mühe, um ihren Chef medial ins gute Licht zu rücken. Sie verschicken Redetexte, Berichte über seine Aktivitäten überall in der Welt und schöne Fotos. Doch als Oettinger jetzt ganz ohne ihr Zutun in die Presse kam, da lavierten die Presseleute erst einmal herum. "EU-Kommissar Oettinger hat keine vorgefertigte Rede abgelesen", wand sich die Vizesprecherin des Kommissars, daher könne sie leider zu seinen Äußerungen nichts sagen. Dabei machten seit dem Morgen ziemlich undiplomatische Zitate des einzigen deutschen Kommissionsmitglieds über die EU-Partner und den Zustand der Gemeinschaft die Runde.
Kostprobe: "Mir machen Länder Sorgen, die im Grunde genommen kaum regierbar sind: Bulgarien, Rumänien, Italien." Zitiert hatte solche Sätze die "Bild"-Zeitung aus einem Vortrag, den Oettinger am Dienstag vor der belgisch-luxemburgisch-deutschen Handelskammer gehalten hatte. Eine Sprecherin der Institution hatte die Äußerungen längst weitgehend bestätigt, als sich später noch einmal Oettingers Chefsprecherin gewunden meldete. Sie wolle die Äußerungen "in den Kontext bringen", teilte sie mit und schob eine Schlange äußerst weichgespülter Oettinger-Zitate nach, um den anderen ihre Kraft zu nehmen. Im Übrigen: alles nur "persönliche Bedenken", des Kommissars.
"Oettinger ist der Gaul durchgegangen"
Das konnte natürlich die Aufregung nicht mehr stoppen. Dass der Vertreter Deutschlands in der Kommission mit wenig gewählten Worten über Europa als "Sanierungsfall" herzog, sorgte für Stirnrunzeln bei anderen Kommissionsmitgliedern (die sich natürlich öffentlich nicht äußern mochten), ebenso wie bei anderen EU-Institutionen, etwa Parlamentspräsident Martin Schulz ("Oettinger ist der Gaul durchgegangen") und bei Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler ("sollte man nicht schlecht reden").
Dabei vergingen nur einige Stunden, bis die Kommission und ihr Präsident selbst sich in der Sache kaum weniger sanft einließen, als der redselige Kommissar aus Baden-Württemberg. Denn am Mittwoch war Zeugnistag in Brüssel. Die Kommission gab Noten für die Haushaltssituation der EU-Länder, nicht nur der Krisenstaaten und Kommissionspräsident José Manuel Barroso sparte nicht mit Kritik. Sie galt, allen voran, Frankreich. "Frankreich hat in den vergangenen zehn, vielleicht sogar auch 20 Jahre an Wettbewerbsfähigkeit verloren", warnte Barroso. "Unsere Botschaft an Frankreich ist in der Tat ziemlich fordernd."
Das hatte bei Oettinger lediglich im Ton etwas unterschiedlich geklungen. Das Land sei "null vorbereitet, auf das, was notwendig ist" und solle allen voran, den Rentnern die Bezüge kürzen. Auch die Kommission verlangt nun von Paris mehr Tempo bei Strukturreformen - allerdings nicht zuerst bei der Rente. Die Regierung müsse für niedrigere Arbeitskosten sorgen und die Märkte für Energie und Dienstleistungen öffnen. Frankreichs Präsident Francois Hollande reagierte am Abend verschnupft: Er lasse sich nicht "diktieren, was wir zu tun haben". Es sei "einzig" an Frankreich, den richtigen Weg aus der Krise zu finden.
Auch das von Oettinger für unregierbar erklärte Italien sprach Barroso an. Das hohe Schuldenniveau sei "eine große Last für die italienische Wirtschaft". Der Präsident äußerte aber Vertrauen in Reformen aus Rom, demzufolge hält er das Land vorerst für regierbar.
Mehr Zeit beim Sparen
Nach der Peitsche kam dann das Zuckerbrot aus Brüssel, und das ist nur auf den ersten Blick paradox. Bei aller Kritik hat nämlich die Kommission vorgeschlagen, den schwächelnden EU-Ländern etwas mehr Luft dabei zu geben, ihre Finanzen in Ordnung zu bringen. "Wir haben jetzt Raum, um das Tempo bei der Haushaltskonsolidierung zu drosseln", sagte Barroso. Frankreich, Spanien, die Niederlande und Portugal bekommen ein Jahr mehr Zeit, um ihr Budgetdefizit unter die in der Eurozone geltende Grenze zu senken, die bei drei Prozent der Wirtschaftsleistung liegt. Spanien erhält sogar zwei Jahre extra. Italien soll offiziell aus dem EU-Defizit-Sprachverfahren entlassen werden - das Land hat zwar Probleme mit Schulden, ist aber beim Haushaltsminus schon nah beim Ziel.
Zahlreiche Ökonomen hatten zuvor gefordert, dass die EU etwas weniger streng mit ihren Mitgliedern ist. Sie fürchten, dass zu viel Sparpolitik in den öffentlichen Haushalten die ohnehin schon in der Rezession steckende Wirtschaft weiter drangsalieren könnte. Gleichzeitig wollen aber die EU-Kommissare unbedingt vermeiden, dass die Länder die neue Großzügigkeit als Freibrief nutzen, um nichts mehr zu tun. Deshalb insistierte Barroso auf Strukturreformen, gerade im Fall Frankreichs. Bundeskanzlerin Angela Merkel fährt übrigens am Donnerstag zu Frankreichs Präsident François Hollande nach Paris, um mit ihm über mehr Wettbewerbspolitik und Wirtschaftswachstum zu sprechen. Eigentlich wollte Berlin daher vermeiden, dass der Pariser Partner im Vorfeld weiter unter Druck gesetzt wird. Führende Politiker in der Union störten sich dann auch mehr am Ton Oettingers, als am Inhalt seiner Erklärungen.
Deutschland soll auch was tun
Für Genugtuung sorgt bei den Sorgenkindern unter den EU-Staaten, dass Barroso auch Deutschland rüffelte, das für manche Politiker in der Krisenregion zum Buhmann geworden ist. Länder mit Wirtschaftsüberschuss wie Deutschland sollten mehr tun, um die Nachfrage im Inland anzukurbeln. Außerdem forderte die Kommission Deutschland auf, das Ehegattensplitting zu streichen, das "signifikante Fehlanreize für Zweitverdiener setze". Berlin solle stattdessen seine Hausaufgaben bei Betreuungsplätzen für Kleinkinder machen und überdies die Steuer- und Abgabenlast senken - besonders für Geringverdiener. Auch Oettinger übrigens hatte sein Heimatland nicht völlig von seinem Rundumschlag ausgespart. "Die Deutschen sind ziemlich scheinheilig", sagte er und kritisierte "Betreuungsgeld, Mindestlohn, Nein zum Fracking". Fracking ist die umstrittene Technik, um Schiefergasvorkommen zu erschließen. Wenigstens mit diesem Punkt ist Oettinger kurz auf sein eigentliches Fachgebiet zurückgekommen, die Energiepolitik.