Groß war die Aufregung, als die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde, mit drastischen Worten die Steuermoral der Griechen als anhaltend schlecht kritisierte. Ihren Vorwurf, geäußert Ende Mai in der britischen Zeitung "Guardian“, garnierte sie mit der Äußerung, sie denke mehr an die Kinder im afrikanischen Niger als an die Menschen in Athen. Politiker aller Couleur fielen über die Französin her. Schließlich befanden sie sich damals im Wahlkampf. Eine Woche nach ihrem Interview äußerte die IWF-Chefin öffentliches Bedauern, dass ihre Worte missverstanden worden seien und zu Verärgerung geführt hätten. "Das war nicht meine Absicht." In der Sache blieb Lagarde jedoch hart. Der Leiter der Steuerfahndungsbehörde des Landes, Nikos Lekkas, stimmte ihr zu: "Die Steuerflucht in Griechenland erreicht zwölf bis 15 Prozent des Bruttosozialprodukts. Das sind 40 bis 45 Milliarden Euro im Jahr. Wenn wir davon auch nur die Hälfte eintreiben könnten, wäre Griechenlands Problem gelöst." Das verlange natürlich politischen Willen. "Unsere Politiker haben begonnen, das zu verstehen", sagte Lekkas. Das mag sein. Aber auch alle Bürger?
Eine Mitteilung des Finanzministeriums vom Mittwoch gibt Lagarde Recht und stärkt Vorurteile, wonach die Griechen Steuerhinterziehung als Volkssport betrachten. Trotz verstärkter Kontrollen bekommt die Steuerfahndung die Unsitte nur schwer in den Griff. Bei Stichproben wurden innerhalb von vier Tagen Anfang August 604 Restaurants, Bars und Tavernen sowie andere touristische Unternehmen kontrolliert. Dabei wurden nach offiziellen Angaben der Ermittler etwas mehr als 2000 Unregelmäßigkeiten festgestellt. Die Bücher von knapp 59 Prozent aller geprüften Firmen seien nicht in Ordnung gewesen, teilte das Ministerium mit. In den meisten Fällen gaben die Unternehmer keine Quittungen aus. Dabei kassierten sie zwar die Mehrwertsteuer, "steckten sie aber in die eigene Tasche“, zitierte DPA einen Ermittler.
"Rekordhalter" bei der Steuerhinterziehung seien zwei Bars am Touristenstrand von Faliraki auf Rhodos. Es wurden nach Angaben des Finanzministeriums in diesen zwei Läden insgesamt 463 Steuerhinterziehungsfälle registriert. Die Besitzer dieser Bars hatten in der Nacht zum 4. August keine einzige Quittung ausgegeben, wie der Mitarbeiter der Steuerfahndung sagte.
Ermittlungen an mangelnder Banken-Kooperation
Im Januar druckten diverse griechischen Zeitungen eine "Liste der Schande“. Den Titel hatte die Aufstellung von dem damaligen Finanzminister Evangelos Venizelos erhalten. Sie umfasste 170 Seiten. Darin nannte die Regierung die Namen von 4000 Steuersündern, die dem Staat knapp 15 Milliarden Euro schuldeten. Das löste Zorn und Wut im Volk aus – wie fünf Monate später Lagardes Äußerungen. Zumal auf der Liste Namen vieler Reicher und Schöner standen, darunter prominente Sänger, Unternehmer, Sportler. Auf dem Gipfel des Eisbergs stand Schlagersänger Tolis Voskopoulos, dessen Frau als stellvertretende Tourismusministerin zurücktreten musste.
Dabei ist klar, dass Griechenland das Problem in den Griff bekommen muss, um finanziell wieder auf die Beine zu kommen. Lekkas hatte zudem als oberster Steuerfahnder vor einer "sozialen Explosion" gewarnt, wenn es nicht gelinge, die Spaltung der Gesellschaft in "unberührbare Eliten und Bürger, die geschröpft werden", zu überwinden. Seiner Ansicht nach scheitern viele Ermittlungen an mangelnder Kooperation griechischer Banken. Seine Behörde habe mehr als 5000 Anträge auf Konteneinsicht gestellt, aber nur in 214 Fällen sei dies bislang gelungen. In 500 Fällen, die Politiker betreffen, warte die Behörde seit fünf Monaten auf Auskunft, hatte er im Zug der Debatte um Lagarde erklärt, die gesagt hatte, Hellas könne seine wirtschaftlichen Probleme lösen, indem die Bürger ihre Steuern zahlten. Danach folgte das umstrittene Zitat: "Ich sorge mich mehr um die Kinder in einem kleinen Dorf in Niger, die nur zwei Stunden Unterricht am Tag haben und sich zu dritt einen Stuhl in der Schule teilen. Sie brennen darauf, Bildung zu bekommen. An diese Kinder denke ich die ganze Zeit. Denn ich glaube, sie brauchen viel mehr unsere Hilfe als die Menschen in Athen."
Lagarde pocht auf besseres Steuerneintreiben
Inzwischen konnten sich die Griechen auf das von den Europartnern geforderte weitere Sparpaket im Volumen von 11,5 Milliarden Euro verständigen. Sozialistenchef Evangelos Venizelos, der Lagarde Ende Mai heftig für ihren Einwurf attackiert hatte, forderte als Gegenleistung von der Troika aus Europäischer Union, EZB und IWF eine Streckung bei der Erreichung der Sparziele. Griechenland muss sein Haushaltsdefizit von derzeit über neun Prozent bis zum Ende des Hilfsprogramms 2014 auf unter drei Prozent drücken. Weil der IWF das für aussichtlos hält, droht er mit einer Einstellung der Milliardenhilfen. Das dementierte Lagarde zwar: "Der IWF verlässt niemals den Verhandlungstisch." Ihre Einrichtung stehe im Dialog mit den griechischen Regierungsstellen. Allerdings: Griechenland könne bei der Bewältigung der Finanzprobleme noch mehr tun. Was genau? Lagarde: Steuern besser eintreiben.