Parma ist die Stadt der Nerze. Prosciutto, Parmesan und Pasta, alles gut und schön. Aber kaum eine Stadt im wohlhabenden Norden Italiens hat diese Nerzdichte pro Quadratmeter Fußgängerzone. Ein ganzes Geschwader der Edelpelzträgerinnen hat sich zum Aperitivo im "Gran Caffé Cavour" versammelt, im Schatten des marmornen Baptisteriums, dessen Rosatöne sich in den perlenden Kelchgläsern der Damen zu spiegeln scheinen. Unter schweren Kristalllüstern wird gescherzt, man nascht ein bisschen an Schinken- und Gemüsestiften, und beinahe ist es wie immer. Doch dann fällt der Name Tanzi.
Im Radio wird eine Familienzusammenführung der besonderen Art gemeldet: In Parmas Haftanstalt, wo Calisto Tanzi, 65, Ex-Patron des Milchriesen Parmalat, samt Führungsriege schon länger residiert, halten an diesem Tag Bruder, Sohn und Tochter Einzug. Ein Clan - der immer gleiche Vorwurf: betrügerischer Bankrott und Bildung einer kriminellen Vereinigung. Die Damen reagieren indigniert: "Dio! Warum musste die Bande aus Collecchio ihre Milch bloß Parmalat nennen?"
Seit Wochen beschwört Bürgermeister Elvio Ubaldi aus der Berlusconi-Partei Forza Italia seine 170.000 Parmigiani, keine Hexenjagd zu treiben gegen die Herrschaften aus dem zehn Kilometer entfernten Kaff, die das Image der Stadt in saurer Milch zu ersaufen drohen. Dort, wo die Zentrale des Weltmarktführers für H-Milch und viertgrößten Lebensmittelkonzerns in Europa steht, hinter dessen Kulissen sich der dreisteste Finanzskandal in der Wirtschaftsgeschichte des Kontinents abspielte. Die gigantische Summe von 14,5 Milliarden Euro ist in einem undurchdringlichen Geflecht aus über 200 Scheinfirmen zwischen Italien, Malta, Luxemburg, Südamerika, den USA und Steuerparadiesen wie den Antillen oder den Caymans versickert. Ein Enron-Thriller mit operettenhaften Zügen: Denn in der Po-Ebene waren keine coolen Finanzmanager mit raffinierten Spekulationstricks wie in Texas am Werk, sondern zwei Dutzend drittklassiger Schieber um Parmalat-Padrone Tanzi, die bei Bedarf mit Scanner, Klebstoff und Drucker Bankpapiere fälschten und ihren Computern mit Hammerschlägen den Garaus machten, als ihr auf Milliardenpump gestütztes Imperium Ende Dezember zusammenbrach.
Jetzt stehen weltweit 36.800 Arbeitsplätze in 136 Betrieben auf dem Spiel, mehr als 85.000 Sparer blieben allein in Italien auf wertlosen Parmalat-Obligationen von über 3,5 Milliarden Euro sitzen, und es vergeht kein Tag, an dem Ermittler und Medien nicht Neues über die trüben Machenschaften des "Großen Milchmanns" ("Corriere della Sera") und seiner Truppe enthüllen. Schlagzeilen, die schmerzen und peinlich sind für Parma: Die Spitzenreiterin unter Italiens Städten mit der höchsten Lebensqualität, von deren Arbeitslosenrate - 2,7 Prozent - und Sozialsystem man hierzulande nur träumen kann, satte Hochburg italienischer Agro- und Gastrokultur, die eben zum Sitz der mächtigen EU-Lebensmittelkontrollbehörde erkoren wurde - vor der Welt steht sie plötzlich da wie das sizilianische Mafia-Nest Corleone.
"Eine Cupola aus Industrie, Politik, Banken und Kirche bestimmt seit zwei Jahrzehnten die Geschicke der Stadt", sagt Mario Tommasini, 76, "und alle haben das gewusst. Aber die Leute sind durch den Wohlstand gleichgültig und bequem geworden." Der lebhafte Mann ist das "soziale Gewissen" im einst traditionell roten Parma, legendärer Stadt- und heute Provinzabgeordneter der Linken, einer, der fast verzweifelt die Wurzeln des Erfolgs seiner Heimatstadt beschwört: "Die Wiege der Lebensmittelindustrie sind wir nur geworden, weil Bauern und Händler schon vor 100 Jahren begannen, Hand in Hand zu arbeiten, mit Fleiß, Anstand und Stolz auf ihre Ware."
Heute erinnert die Stadtführung mit Tommasini an den Gang durch ein Kriminalpanoptikum. Vorbei an den Bankpalästen von Cariparma und Monte Parma, deren ehemalige Chefs zugleich in Diensten Tanzis standen: Erst pumpten die Lokalbankiers Hunderte Millionen Euro in die Bilanzlöcher, die sie als Führungspersonal bei Parmalat mitzuverantworten hatten, dann versuchten sie bis zuletzt, sich mit faulen Firmen-Bonds an ihrer Kleinkundschaft schadlos zu halten. Ein paar Gassen weiter steht Parmas Tribunale, der Justizpalast, vor dem seit Ende Dezember eine Phalanx von TV-Sendewagen postiert ist: Täglich werden hier Beschuldigte der Joghurt-Connection zum Verhör geführt, 54 Herren aus den Chefetagen von Parmalat, von internationalen Revisionsgesellschaften und Investmentabteilungen in- und ausländischer Kreditinstitute wie der Deutschen Bank - und dann muss über Nacht ausgerechnet der Generalstaatsanwalt den Hut nehmen, weil er selbst mittendrin stecken soll im Sumpf aus Korruption und Bestechung.
In der Via Mantova um die Ecke residiert die "Gazzetta di Parma", Lokalzeitung mit Monopolstellung am Ort, für die bis vor kurzem Tanzi-Sohn Stefano, 35, als Herausgeber zeichnete. Das Blatt ist im Besitz des örtlichen Unternehmerverbands, und es dauerte Wochen, bis der seinem journalistischen Personal mehr als nur eine Meldung über den größten Wirtschaftsbetrug im Land genehmigte. Ein paar Schritte weiter das ehrwürdige Rathaus, dessen Hausherr Ubaldi im Wahlkampf mit 250.000 Euro aus Tanzis Portokasse gesponsert wurde. Gut drei Millionen Euro verteilte der Padrone jährlich an Parteien und Politiker auf allen Seiten, um das System aus Gefälligkeiten auf Gegenleistung zu schmieren, das dem Lügengebäude Parmalat die Deckung sichern half. Schließlich die weltberühmte Piazza Duomo mit den Wahrzeichen der Stadt, Baptisterium und Kathedrale, deren Marmorbögen und Fresken warm leuchten in der Spätwintersonne - dank Don Calisto, der Millionen lockermachte für die Restaurierung. Dank des Aufsteigers aus Collecchio, dem sie vor Jahren den Ehrendoktor verliehen für seine "klaren Visionen" und "ethischen Grundsätze" - und dessen Namen sie heute am liebsten tilgen würden aus den Annalen der Stadt.
"Vielleicht war Tanzis größtes Problem, dass er hier geliebt werden wollte", sagen die Männer des Altherren-Fanclubs "Bel Eté", die sich jeden Mittag zum Fachsimpeln auf den Rängen der Nordkurve im Stadion Tardini treffen, der Heimstatt des AC Parma. Lange hatten sich doch alle belustigt über die Versuche des Metzgersohns Calisto, nicht der "Parmense" aus dem Umland zu bleiben, sondern ein echter "Parmigiano" zu werden. Einer wie Pietro Barilla, der populäre Bäckerssohn aus den eigenen Reihen, dem die Stadt schon huldigte, bevor sein Nudelimperium bis zur Weltspitze aufgestiegen war. Der Wettlauf um Parmas Gunst war Tanzi Unsummen wert gewesen, nicht nur für Dom, Theater und Sozialstationen. Geschmeichelt registrierten die bornierten Städter das Sponsoren-Logo Parmalat, als es im Formel-1-Zirkus prangte, auf Niki Laudas Boliden in den Achtzigern.
Wirklich erobert aber hat Calisto Tanzi die Stadt erst, als er den heimischen Drittligisten AC Parma kaufte und zur Top-Mannschaft der A-Liga hochpäppelte, Weltklassespieler wie Amoroso, Crespo und Cannavaro verpflichtete - und mit dem Club 1993 im Londoner Wembleystadion den Europapokal der Pokalsieger und später zwei Uefa-Cups gewann. 400 Millionen Euro hat sich der Clan aus Collecchio das Fußballwunder kosten lassen, keinen Sonntag fehlten sie auf der kleinen Ehrentribüne, Calisto, der Allmächtige, zu dem sie endlich aufsahen, und neben ihm sein schmächtiger Sohn Stefano, dem er den Club wie ein Spielzeug anvertraute. "Tanzi hat uns 13 Jahre großen Fußball geschenkt", geben die Tifosi-Senioren zu bedenken, "wir dürfen jetzt nicht undankbar sein." Wehmut klingt mit in ihren Worten, während über ihren Köpfen das blau-weiße Parmalat-Transparent eingerollt wird, um Platz zu schaffen für neue Sponsoren.
Denn jetzt ist der Club Pleite, soll zum Spielzeitende verkauft werden. Die besten Kicker sind schon verhökert, und bei den Jungs vom Fanclub "Settore Crociato" herrscht nicht Wehmut, sondern Wut. "Die ganze A-Liga ist heute zur Geldmaschine verkommen", sagen sie und schaufeln zornig geschmorte Eselsbacken in sich hinein bei "Benecchi", der Club-Trattoria in Parmas Altstadt, "zum Prestigeobjekt für Pleitiers wie Tanzi, die die Clubs mit in den Abgrund reißen." Knallend wird eine Flasche Lambrusco entkorkt, dann stoßen die Tifosi auf ihre neue Bescheidenheit an: lieber mit Anstand in die dritte Liga zurück, als noch mal profilneurotischen "Ladri" in die Hände fallen.
Pater Alfredo kann diese Anfälle von Selbstgerechtigkeit nicht mehr hören, dieses "Wir in Parma die Engel, ihr in Collecchio die Diebe". Haben sie nicht alle Schlange gestanden bei Tanzi, die Adabeis in ihren Brioni-Outfits, die um jeden Preis dabei sein wollten beim Sonntagsempfang in der Familienvilla nach jedem Fußballspiel? Die um Jobs und Empfehlungen nachsuchten beim Cavaliere, dem gläubigen Wohltäter, der auch den Klerus verwöhnte, schon wahr, mit Millionenschecks und kostenfreiem Shuttle-Service im Firmenjet für eilige Kurienkardinäle? Einer "biblischen Katastrophe" kommt für den Seelsorger im 8.000-Einwohner-Ort Collecchio der Zusammenbruch des Tanzi-Reichs gleich, von dem alle im Ort bisher so prächtig gelebt hatten - vom Arbeiter bis zum Angestellten, vom Sterne-Restaurant "Villa Maria Luigia" bis zu den örtlichen Friseursalons. Jedes Jahr hat der Priester ein halbes Dutzend Straßen geweiht in wuchernden Neubaugebieten rund um Collecchio, wo die Villendichte inzwischen dem eines Nobel-Skiorts entspricht. Jetzt, sagt er, sei seiner Herde "ein Schaf verloren gegangen" - und keiner kann sich erklären, warum. "Ein bescheidenes, fast banales Leben haben sie geführt, die Tanzis", beteuern alle im Ort, als ginge es um ihren eigenen Ruf. Dem Cavaliere genügte ein schmuckloses Anwesen auf dem platten Feld, dazu zwei Yachten und ein paar Flugzeuge - "Peanuts", wenn man die Allüren eines Berlusconi bedenkt, finden sie hier. Mondänität mit faulen Milliarden? "Hören Sie auf!", entrüstet sich Hochwürden. "Einmal im Jahr das traditionelle Schwertfischessen in größerer Runde mit frisch aus Sizilien eingeflogener Ware. Das war's."
Doch das Klima ist kälter geworden in der Gemeinde, jetzt, wo fast 3.000 Jobs bei Parmalat und den Zulieferern auf der Kippe stehen - einschließlich der 17 Bodyguards der Familie Tanzi. Don Alfredo betet viel in diesen Tagen, auch dafür, dass sich Szenen wie neulich nicht wiederholen, als die Gattin eines inhaftierten Parmalat-Managers im örtlichen Supermarkt angegiftet wurde: "Nun sagt schon, wo habt ihr die Milliarden versteckt?"
Wenn es ihn nur gäbe, diesen "Tanzi-Schatz", dann könnten Leute wie die Zanettis aufatmen. Dann wäre sicher, dass es weitergeht bei ihrem Arbeitgeber Parmalat, wenigstens das gesunde Kerngeschäft, Milch, Joghurt, Sahne und Säfte. "Aber da wird außer Krumen alles in diesem irrwitzigen Schuldenstrudel verschwunden sein", glauben Marco, 51, und Nicoletta Zanetti, 41, drei kleine Kinder, beide ein Leben lang im Labor des Stammwerks beschäftigt, gemeinsames Monatseinkommen: 2.700 Euro. Trotz der Unsicherheit sind die Zanettis und ihre Kollegen nicht von Existenzängsten geschüttelt: Viele haben wie sie das propere Eigenheim schon abbezahlt, in der florierenden Provinz Parma ist neue Arbeit leicht zu finden. "Am meisten", sagen Marco und seine Kollegen, "nagt Tanzis Verrat als Unternehmer an uns: Da haben wir gemeinsam eine tolle Firma aufgebaut - und dann lassen er und seine windigen Manager sich im Expansionsrausch von korrupten Revisoren und gierigen Bankern in den Abgrund ziehen."
Der Schock über ihren schizophrenen Ex-Boss sitzt tief. Da war der arbeitsame Dr. Jekyll, der selten den Schreibtisch verließ, bei dem es die besten Löhne und Sozialleistungen in der Gegend gab und die 36-Stunden-Woche. Und plötzlich taucht dieser Mr Hyde auf, der für dubiose Transaktionen Milliarden an der Firma vorbeischleuste, für den maroden Tourismuskonzern Parmatour etwa, die Mitgift von Tochter Francesca, 36. Erst als im Januar ein unschuldiger Kollege aus der Buchhaltung in den Tod sprang, ging ein Ruck durch die Belegschaft. Keine Stunde standen die Bänder seither still, die Milchbauern sollen liefern und ihr Geld kriegen, kein Streik und kein Selbstmitleid soll die Produktion aufhalten. Man will der Welt zeigen, dass Parmalat eine Überlebenschance hat.
Aldina Re, 75, wünscht sich das auch. Nicht nur wegen des verlorenen Geldes, das dann vielleicht zurückfließt. Auf Anraten ihrer Hausbank Unicredit hatte die Rentnerin aus Parma noch vergangenes Jahr 21.000 Euro in Parmalat-Wertpapieren angelegt - die Ersparnisse eines Lebens als Fabrikarbeiterin. Solide Markenware aus der Heimat sollte es sein. "Wenn die Pleite gehen", hatte der Banker forsch behauptet, "dann muss ich mit Ihnen unter die Brücke ziehen." Aldina wollte keinen Nerz, sie wollte mit den versprochenen fünf Prozent Zinsen ihre Rente aufbessern, nicht dem Sohn auf der Tasche liegen, wenn sie sich manchmal eine Zugehfrau leistet für die Pflege ihres gelähmten Manns. Jetzt sitzt sie wie rund 12.000 Parmigiani auf Altpapier, hat wenig Hoffnung, dass die Pilotklage der Verbraucherschützer gegen die Banken etwas bringt. "Aber der Schock hat vielleicht was Gutes", sagt die resolute Signora, "Es ging uns zu gut, jetzt sind wir aufgewacht."
Aus Solidarität mit der Belegschaft kauft sie neuerdings gezielt Produkte von Parmalat, wie viele ihrer Nachbarn, wie viele im ganzen Land. Seit Jahresbeginn stiegen die Absatzzahlen für Milch, Joghurt und Säfte zum Teil um 30 Prozent. "Grazie" war kürzlich auf einer ganzseitigen Firmenanzeige in allen großen Tageszeitungen zu lesen, "Danke an die 16 Millionen italienischen Familien, die in diesen schwierigen, unsicheren Tagen weiterhin unsere Marke wählen." Das ist es, was der Signora Hoffnung macht.