Seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges und dem Stopp der Gaslieferungen aus Russland im vergangenen Jahr bemüht sich Deutschland, eine eigene Infrastruktur für den Import von Flüssiggas (LNG) auf die Beine zu stellen. Zentraler Baustein ist dabei die Errichtung von mehreren LNG-Terminals. Ende 2022 ging in Wilhelmshaven die erste Anlage in Betrieb. Zwei weitere Terminals in Brunsbüttel und Lubmin haben inzwischen ebenfalls ihre Arbeit aufgenommen. Bis Ende 2023 sollen es sechs sein, darunter auch ein Terminal vor der Insel Rügen. Dort formiert sich seit Wochen der erbitterte Widerstand der Insulaner. Was ist genau geplant? Und warum ist ausgerechnet hier die Empörung so groß?
Was genau soll vor Rügen gebaut werden?
Mitte Februar stellte Mecklenburg-Vorpommerns Wirtschaftsminister Reinhard Meyer (SPD) die LNG-Pläne des Bundes für das Land vor. Demnach sollen rund fünf Kilometer vor Rügens Südostküste zwei Plattformen gebaut werden, sogenannte Risertower, an denen wiederum je zwei schwimmende Flüssiggas-Terminals (Floating Storage and Regasification Unit, FSRU) festmachen können. Dort sollen LNG-Tanker ihre begehrte Gas-Ladung abgeben, die dann mittels einer 38 Kilometer langen Pipeline, die ebenfalls noch gebaut werden muss, nach Lubmin transportiert werden soll. Der Bund hatte am Montag bestätigt, dass er zu diesem Zweck rund 1000 Rohre gekauft hat, die ursprünglich für die umstrittene Gaspipeline Nord Stream 2 gedacht waren. Die maximale Kapazität der gesamten Anlage soll 38 Milliarden Kubikmeter Gas betragen. Das entspricht in etwa 40 Prozent des deutschen Jahresbedarfs an Erdgas. Umgesetzt werden soll das Vorhaben vom Energiekonzern RWE.
Bereits heute wird vor Rügen Flüssiggas angelandet. Schon seit Dezember liegt vor der Küste des Ostseebades Sellin ein Depot-Tanker der zum bereits in Betrieb gegangenen LNG-Terminal in Lubmin gehört. Er wird regelmäßig von kleineren Shuttle-Schiffen angefahren, die die Ladung anschließend nach Lubmin bringen. Mit einer fest verbauten Konstruktion wären diese Shuttle-Touren überflüssig.
Warum gerade Rügen?
Das hat vor allem mit der bereits bestehenden Infrastruktur zu tun. In Lubmin enden bereits die Leitungen der umstrittenen Russland-Pipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2. Es gibt eine entsprechende Gas-Infrastruktur. Von hier führt ein bereits bestehendes Leitungsnetz etwa bis nach Tschechien und Bayern.

An welchem Standort soll das Terminal entstehen?
Der genaue Ort, an dem das umstrittene LNG-Projekt vor Rügen entstehen soll, steht noch gar nicht fest. Ursprünglich war vom Bundeswirtschaftsministerium eine Position unmittelbar vor dem Ostseebad Sellin favorisiert worden. Doch nach der heftigen Kritik hat das Ministerium die Planungen zurückgezogen und prüft nun alternative Standorte. Konkret ist von Mukran die Rede, einem Ortsteil von Sassnitz, etwa 15 Kilometer nördlich. Dort gibt es einen Tiefwasserhafen, ungenutzte Industrieflächen, einen gewissen Abstand zu Wohngebäuden und touristischer Infrastruktur. Nachteil: Der Hafen von Mukran ist nicht tief genug, er müsste aufwendig ausgebaggert werden. Auch ein Standort weiter draußen auf der Ostsee soll geprüft werden. "Die Standortentscheidung soll so schnell wie möglich gefällt werden", hatte das Bundeswirtschaftsministerium vor Kurzem mitgeteilt.
Wieso formiert sich ausgerechnet auf Rügen ein so heftiger Protest gegen LNG?
Die Gegner auf der Insel sehen vor allem die Umwelt und den Tourismus durch das Projekt bedroht und ziehen seit Monaten alle Register. Ende Februar formierten sich 2500 Menschen zu einer Protestkundgebung. Bürgermeister formulierten Briefe an Scholz und Habeck. Eine Bundestagspetition wurde erfolgreich auf den Weg gebracht, so dass sich ein Bundestagsausschuss mit den Plänen zum Terminal beschäftigen muss. Dass sich Bundeskanzler Scholz und Wirtschaftsminister Habeck heute Abend nach Rügen aufmachen, um sich den kritischen Fragen zu stellen, ist vermutlich auch der Heftigkeit der Proteste geschuldet.
Insbesondere Umweltverbände laufen Sturm. Der Nabu hat mit dem BUND Mecklenburg-Vorpommern, dem WWF und der Deutschen Umwelthilfe eine enge Zusammenarbeit gegen die geplanten Anlagen auf Rügen vereinbart. Das Bündnis spricht von einem "klimapolitischen Irrweg" und warnt vor Überkapazitäten, vor allem aber vor einer massiven Schädigung von sensiblen Ökosystemen. So würden durch die Bauarbeiten etwa Schweinswale aus ihrem Lebensraum vertrieben, der Greifswalder Bodden, durch den die geplante Pipeline führen soll, sei eines der bedeutendsten Heringslaichgebiete der westlichen Ostsee. Der Hering wiederum sei die Nahrungsgrundlage für eine gerade erst wieder ansiedelnde Kegelrobbenpopulation. Darüber hinaus würden wichtige Riffe und zu schützende Biotope durch den Bau verloren gehen.
Vertreter des Bäderverbandes warnten zudem, dass den Ostseebädern mit den Terminals die Aberkennung ihres Status' drohen würde, was wiederum drastische Folgen für den Tourismus auf der Insel hätte.
Gibt es überhaupt Bedarf für so viele Terminals?
Das ist umstritten. Im Jahr 2020 importierte Deutschland insgesamt rund 80 Milliarden Kubikmeter Erdgas. Die Kapazität von 38 Milliarden Kubikmeter, wie sie im Endausbau für das Rügener Projekt vorgesehen sind, scheint gewaltig. Erst recht, wenn man die weiteren in Bau befindlichen oder geplanten Projekte in die Rechnung einbezieht. Eine befürchtete Gasmangellage ist in diesem Winter ausgeblieben, die Gasspeicher sind derzeit zu gut 65 Prozent gefüllt. Hinzu kommt, dass gemäß LNG-Beschleunigungsgesetz der Betrieb solcher Anlagen mit Erdgas in spätestens 20 Jahren einzustellen ist. Die Regierung verweist allerdings darauf, dass die Terminals zukünftig auch für die Verarbeitung des neuen Wundermittels grüner Wasserstoff ausgelegt sind.
Dennoch: Die "Zeit" berichtet von einer Kurzstudie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in der der geplante Bau fester LNG-Terminals an Land als "weder energiewirtschaftlich noch klimapolitisch sinnvoll" eingeschätzt wird. Das gelte erst recht für dauerhafte Terminals wie vor Rügen, heißt es dort von Forschungsdirektor Christian von Hirschhausen. "Einerseits muss man würdigen, dass es letztes Frühjahr starken Handlungsbedarf gab. Andererseits ist spätestens seit Januar und der Stabilisierung der Gasmärkte klar: Jetzt reicht es mal", so Hirschhausen laut "Zeit". Eine Notlage sei "weit und breit nicht abzusehen", das zeige sich auch an den Preisen. Und bereits in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts werde die Nachfrage nach Gas stark sinken.
Auch Fachleute des Instituts für Energiewirtschaft und Finanzanalyse (IEEFA), eines US-amerikanischen Thinktanks, warnen laut "Stuttgarter Zeitung" vor Überkapazitäten. Dem Bericht zufolge wird sich nach IEEFA-Prognosen die LNG-Importkapazität in Europa durch den Bau neuer Anlagen bis 2030 gegenüber 2022 um fast 50 Prozent erhöhen. Die Nachfrage nach LNG werde aber nicht entsprechend wachsen. Die Folge laut IEEFA: 2030 könnte ein Großteil der zur Verfügung stehenden LNG-Importkapazität überflüssig sein.
Quellen: DPA, Nabu, Zeit, Stuttgarter Zeitung,