Donnerstag, 14:00 Uhr, München: Der ICE rauscht an kleinen Ortschaften wie Petershausen oder Pfaffenhofen vorbei, Passagiere im Schnellzug blicken aus dem Fenster auf eine prächtige Winterlandschaft - und lange Gesichter auf den Provinzbahnhöfen. Denn auch in Bayern ist der Regionalverkehr ausgedünnt. Zwischen 30 und 50 Prozent der Züge fahren nicht - das bedeutet für Petershausener und Pfaffenhofener, mindestens eine Stunde zusätzlich einzuplanen und in der Kälte zu frieren.
Umstieg in Nürnberg, hier drängeln sich Reisende vor den gelben Abfahrplänen - und sie sehen eher schwarz: Verbindungen sind durchgestrichen, übergemalt, Zwischenhalte entfernt. Bahnmitarbeiter nehmen den Streik mit Humor: "Eine kleine Streikparty" veranstalten sie nach Einschätzung einer Servicemitarbeiterin in roter Bahnjacke im Foyer des Hauptbahnhofes - mit kostenlosem Kaffee, Tee und Mineralwasser. Palettenweise werden die Getränke herbei gefahren. Was die Gastronomiebetriebe wohl dazu sagen?
Donnerstag, 19:30 Uhr, Leipzig:
Die Drehscheibe des Leipziger Innenstadtverkehrs und des mittelostdeutschen Nah- und Fernverkehrs steht still, in der Ferne sind unzählige abgestellte Züge zu erkennen. Leipzigs Hauptbahnhof hat ein Fahrgastaufkommen von täglich 150.000 Pendlern, Reisenden und Besuchern. Wie viele an diesem Tag tatsächlich mit der Bahn am größten Kopfbahnhof Europas starten oder ankommen, ist nicht bekannt.
Ein Blick in die mächtige Bahnhofshalle verrät aber: In Leipzig geht gar nichts mehr, das Bild auf der Anzeigetafel ist gewaltig. 23 Verbindungen in Folge fallen aus, von der Leipziger S-Bahn über die Bimmelbahn nach Bad Lausick bis zu Fernverkehrszügen nach Magdeburg, Erfurt und München - in Leipzig fällt alles aus, was ausfallen kann. Besonders viel Spaß haben Pendler, die nach Ostsachsen wollen. Sie müssen erst mit dem Zug nach Dresden-Neustadt fahren, von dort geht es mit Bussen weiter. So mancher dürfte auf dem Heimweg eine stundenlange Landpartie erleben. Etwa 85 Prozent der Züge im Nahverkehr fallen derzeit aus, schätzt die Bahn.
Die einzig Glücklichen zu dieser Stunde sind die Passagiere des ICE 1702 nach Berlin, der gegen 19:52 Uhr abfahren soll - ihr Zug kommt fünfzig Minuten zu spät. Aber er kommt. Berlin-Reisende, die besonders trickreich geplant haben, sind bereits um 19:28 Uhr mit dem "Interconnex" nach Berlin aufgebrochen. Denn die Lokführer der Mini-Bahngesellschaft "Veolia" gehören nicht zur GDL. Ein nahe gelegenes Elektrogeschäft wird in der Abendstunde zum Wartesaal - vor einem Fernseher steht gleich ein halbes dutzend Bahnreisende, die das Gerät garantiert nicht kaufen wollen. Sie sehen rote Streikmeldungen durchs Bild laufen, hören den Bahn-Personenverkehrsvorstand Karl-Friedrich Rausch. Der sagt, die GDL wolle die Bahn zur "bedingungslosen Kapitulation zwingen." Auch mir wird spätestens jetzt klar - die Mobilitätsnation Deutschland befindet sich im Krieg. Und es gibt tatsächlich Streik-Gewinnler. Der Streik sei für das Unternehmen erfreulich, posaunt der Autovermieter Erich Sixt in so ziemlich allen Print- und Onlinemedien. "Und je länger er dauert, desto mehr steigert das unseren Ertrag", rechnet Sixt nüchtern vor. An den Bahnhöfen betrage die Auslastung bereits 100 Prozent - an der Sixt-Station am Leipziger Hauptbahnhof geht es gegen 20 Uhr normalerweise eher gemütlich zu, heute herrscht zu abendlicher Stunde jedoch Hochbetrieb. Und der Sixt-Chef bedankt sich beim Lokstreik-Führer Manfred Schell dafür, "dass sie uns so viele Kunden zuführen.“
Kopfschütteln, aber nicht aufregen, dazu gibt es bis Samstag noch reichlich Gelegenheiten. Denn noch immer flackern die Wörter „Dieser Zug fällt aus“ hinter fast jeder Verbindung auf der blauen Anzeige. Und so mancher denkt an Entwicklungshilfe: Angesichts der massiven Zugausfälle im Osten durch den Bahnstreik hat Sachsens Finanzminister Stanislaw Tillich den Einsatz westdeutschen Personals angeregt, wie mehrere Internetdienste melden. Ostdeutschland sei deutlich stärker von dem Streik betroffen, sagte Tillich: "Deshalb appelliere ich an die Bahn, die für Ostdeutschland besonders nachteiligen Streikfolgen auszugleichen."
Donnerstag, 23:00 Uhr, Berlin:
In der Hauptstadt herrscht am späten Abend gähnende Leere - auf den Gleisen, an den Bahnsteigen, im großen Glaspalast. Rat- und hilflos bleibt hier allerdings niemand: Mobilitätsberater in roten Jacken sprechen jeden Reisenden an und versuchen, zu helfen. Wer innerhalb von Berlin weiterreisen will, wird in den Untergrund geschickt. Denn die Berliner U-Bahnen fahren auch nach 23 Uhr noch im Zehn-Minuten-Takt - und entsprechend belebt sind Bahnsteig und Züge auch zur Geisterstunde. Auch die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) zogen nach dem ersten großen Streiktag Bilanz: Am Morgen seien noch in Bussen und Bahnen am Morgen teilweise sehr voll gewesen, die Beeinträchtigungen hielten sich jedoch in Grenzen. Am Donnerstag wurden von den Verkehrsbetrieben bis zu 400.000 zusätzliche Fahrgäste befördert. Währenddessen schwenken noch am späten Abend einige GDL-Mitglieder vor dem mächtigen Glasungetüm ihre Fahnen, im Hintergrund steht das Kanzleramt. Ob die Fahnenträger mit den grünen Lettern „GDL“ und „Dieser Betrieb wird bestreikt“ die Kanzlerin in den Schlaf wedeln wollen?
Lesen Sie im zweiten Teil der Streiknotizen am Nachmittag, wie die Pendler in Schwerin, Hamburg und Frankfurt den größten Bahnstreik in der Geschichte der Bundesrepublik erleben.
Stadt/Region | Situation im Personenverkehr |
Berlin | In der Innenstadt fahren die S-Bahnen im 20- Minuten-Takt, in den Außenbereichen im 40-Minuten-Takt. |
Dresden | Nur ein Drittel aller S-Bahnen fahren. |
Halle | Zwei Drittel der S-Bahnen fallen aus. |
Hamburg | Die Hälfte der S-Bahnen und Nahverkehrszüge sowie zwei Drittel der Fernzüge fahren. Bei der Hamburger S-Bahn bliebe es beim 20-Minuten-Takt. |
Frankfurt | Es fährt nur etwa jede dritte S-Bahn |
Kiel | Die Regionalbahnen nach Preetz und Eckernförde fallen aus, ebenso der ICE nach München. |
Leipzig | Nur jede dritte S-Bahn fährt. |
München | Die S-Bahnen fahren im Stundentakt. Nur die S8 von Pasing zum Flughafen fährt alle 20 Minuten. |
Nordrhein-Westfalen | Etwa die Hälfte aller S-Bahnen fährt. |
Nürnberg | Laut einer Bahnsprecherin sollen zwei Zügen pro S-Bahn-Linie und Stunde fahren. |
Ostdeutschland | Nur etwa jeder fünfte Regionalzug fährt. |
Schleswig-Holstein | Etwa die Hälfte der S-Bahnen und Nahverkehrszüge sowie zwei Drittel der Fernzüge fahren. Auf den Regionalexpress-Strecken Hamburg-Lübeck, Hamburg-Kiel, Hamburg- Flensburg sowie Kiel-Lübeck fahren alle Züge. Andere Regionalbahnlinien verkehren stündlich, teilweise werden Ersatzbusse eingesetzt. |
Stuttgart | Es fährt nur etwa jede dritte S-Bahn. |
Westdeutschland |