"Keine Bohrungen mehr, auch nicht vor der Küste. Keine Möglichkeit für die Ölindustrie, weiter zu bohren, Punkt, Ende", stellte der damalige Präsidentschaftskandidat Joe Biden im März 2020 in einer CNN-Debatte mit seinem Konkurrenten Bernie Sanders klar. Fast auf den Tag genau drei Jahre später titelt die "New York Times": Biden-Administration genehmigt riesiges Ölprojekt in Alaska". Joe Biden hat sein Versprechen gebrochen.
Am Montag gab das US-Innenministerium grünes Licht für das acht Milliarden Dollar teure "Willow Project". Nach 600 Millionen Barrel Öl will der Energiekonzern Conoco Phillips in den kommenden Jahrzehnten in Alaska bohren – in der vielleicht letzten unberührten Wildnis der USA. Anwohner freuen sich über langfristig Hunderte, kurzfristig sogar Tausende Arbeitsplätze, der Staat über Milliardengewinne aus Steuern und Lizenzen. Kritiker und Umweltaktivisten sehen schwarz – und meinen nicht das Öl.
Tausende Jobs, Milliarden Dollar Gewinn
Umgerechnet mehr als 28,6 Millionen Liter will der siebtgrößte Energiekonzern des Landes pro Tag in der Region North Slope, im Norden Alaskas, fördern. Das entspräche rund 1,5 Prozent der gesamten US-Ölproduktion – damit wäre Willow das größte Ölprojekt auf staatlichem Boden. Die National Petroleum Reserve-Alaska (NPR-A), das größte Ölreservat der Vereinigten Staaten, erstreckt sich über eine Fläche so groß wie Ungarn, wenige hundert Meilen vom Polarkreis entfernt. Laut Alaskas republikanischem Senator Dan Sullivan habe Willow das Potenzial, "eines der größten und wichtigsten Ressourcenentwicklungsprojekte in der Geschichte unseres Staates" zu werden.
Conoco Phillips hatte das gigantische Ölfeld 2017 entdeckt und der Regierung zuletzt fünf Bohrstellen vorgeschlagen. Das dem Innenministerium unterstellte Landesverwaltungsamt hat nun drei davon genehmigt. Die hätte es laut Unternehmensangaben auch mindestens gebraucht, um das Ganze rentabel zu machen.
Indigene gehören zu den Befürwortern – sie hoffen auf wirtschaftliche Rettung
Nicht nur auf politischer Ebene gibt es in Alaska für das Projekt parteiübergreifend Unterstützung. Die Bürgermeisterin der 500-Einwohner-Siedlung Nuiqsut, Rosemary Ahtuangaruak, gehört zu den entschiedensten Gegnern. Allerdings spricht sie damit nicht für den Großteil der indigenen Bevölkerung. Zahlreiche indigene Gruppen der US-Exklave befürworten das Projekt entschieden. Sie versprechen sich eine wirtschaftliche Rettungsleine. Es gebe einen "Mehrheitskonsens" für das Projekt, so Nagruk Harcharek, Präsident einer Interessengruppe der Iñupiat gegenüber der US-Nachrichtenagentur AP. Auch die lokale Alaska Native Village Corporation soll sich auf die Seite des Unternehmens gestellt haben. "Heute wurde das Volk von Alaska gehört", zitiert AP die demokratische Abgeordnete Mary Peltola, die dem Volk Yup'ik angehört.
Umweltschützer werfen Biden-Regierung Scheinheiligkeit vor
Conoco Phillips werde die Pachtrechte auf 27.500 Hektar im NPR-A aufgeben, hieß es nun. Dadurch soll das Willow-Projekt weniger Süßwasser verbrauchen und die gesamte bisher angelegte Infrastruktur (Straßen, Pipelines, Schotterwege) für die beiden von der Regierung abgelehnten Bohrstellen beseitigt werden. Damit würden auch die Lebensräume heimischer Tiere, wie Karibus, Zugvögel und Wale erhalten. Gleichzeitig soll dies das Unternehmen wohl auch daran hindern, das Fördergebiet entgegen der Abmachung auszuweiten.
Wenn nicht Joe, wer dann? Wer bei den Demokraten ins Rennen um die Präsidentschaft gehen könnte

Zur CO2-Kompensation könnte laut Innenministerium die Hälfte der Nettoemissionen von Willow ausgeglichen werden, indem unter anderem neue Bäume zur CO2-Speicherung gepflanzt würden. Gleichzeitig gab das Weiße Haus bekannt, eine 2,8 Millionen Hektar große Fläche im Arktischen Ozean vor der Küste Alaskas auf unbestimmte Zeit für die Öl- und Gasförderung sperren und strengere Regeln für besonders schutzbedürftige NPR-A-Gebiete erlassen zu wollen. Das wiederum stieß Vertretern der Energieindustrie und Teilen der Lokalpolitik sauer auf, die in Willow auf den Anfang eines Mineralbooms gesetzt hatten.
Umweltgruppen sehen darin vor allem Augenwischerei. Schließlich würde Willow nichtsdestotrotz massiven Schaden an der Umwelt hinterlassen. Sie sprechen von einer "carbon bomb", von einer Kohlenstoffbombe. "Es macht keinen Sinn, ein Gebiet der Arktis zu schützen, um ein anderes zu zerstören", so die Anwältin einer Umweltschutzgruppe gegenüber der "New York Times". Auf sozialen Medien hatten Aktivisten mit dem Hashtag #StopWillow Druck auf Washington ausüben wollen. Rund 3,4 Millionen Menschen hatten eine entsprechende Online-Petition unterschrieben.
"Ich verstehe den politischen Druck, unter dem die Regierung steht, aber die Wissenschaft ändert sich nicht", formulierte es hingegen Michael Lazarus vom Stockholmer Umweltinstitut gegenüber AP etwas milder.
Altschulden aus Trump-Zeiten?
Während Umweltschützer Biden vorwerfen, Verrat an den eigenen Prinzipien zu begehen, sorgt der Entschluss auch in den eigenen Reihen für heftigen Gegenwind. Parteikollegen im Kongress monieren, Biden würde sein Wahlversprechen brechen, die US-Emissionen bis 2030 gegenüber dem Stand von 2005 zu halbieren.
Biden hatte sich den Kampf gegen den Klimawandel schon im Rennen um das Weiße Haus auf die Fahne geschrieben. Tatsächlich hatte er unmittelbar nach seinem Amtsantritt die Verkäufe von Öl- und Gaspachtverträgen zunächst ausgesetzt, wurde jedoch später zumindest teilweise zu Kompromissen verpflichtet. Das Willow-Projekt, so berichtet die "New York Times", genehmigte der Präsident aber aus freien Stücken, ohne Druck von konservativen Abgeordneten oder Gerichtsurteilen.
2021, Biden saß erst seit kurzem im Oval Office, verteidigte das Justizministerium die Ergebnisse einer noch unter Donald Trump durchboxten Umweltverträglichkeitsprüfung, in deren Folge Willow genehmigt wurde. Unter Trump hatten Beamte argumentiert, dass inländische Ölförderung im Endeffekt die globalen Emissionen senken würde – schließlich hielten sich US-Unternehmen im Gegensatz zur ausländischen Konkurrenz an Umweltstandards. Der Widerstand der Wissenschaft ließ nicht lange auf sich warten. Ein Bundesrichter hob die Genehmigung wieder auf – unter anderem, weil die Analyse schlicht mangelhaft durchgeführt worden war.
CO2-Ausstoß von zwei Millionen Autos – für 30 Jahre
Und trotzdem soll das Öl bald sprudeln – einer erneuten, diesmal wohl finalen Überprüfung sei Dank. Innenministerin Deb Haaland nannte die Willow-Freigabe eine "schwierige und komplexe Angelegenheit", bei der auch alte Pachtverträge früherer Regierungen eine Rolle gespielt hätten. Man habe deshalb nur einen "begrenzten Entscheidungsspielraum" gehabt. In der Tat hatte Conoco Phillips die Pachtrechte für das Gebiet bereits 1999 erworben – nur wusste man lange nicht, auf welchem Schatz man saß. "Sie [die US-Regierung] hätten vor Gericht verloren", ist sich die Juristin Amy Myers Jaffe von der Universität New York sicher. Dass es überhaupt zu einer Art Kompromiss gekommen sei, sei schon als Erfolg zu werten, sagte sie gegenüber der "Washington Post".
In diesem Jahr flossen bisher täglich rund 498.000 Barrel durch die Trans-Alaska-Pipeline – in den 80ern waren es noch mehr als zwei Millionen. Im Endeffekt hat die Biden-Administration außerdem deutlich weniger staatlichen Boden zur Ölförderung verpachtet als Vorgängerregierungen. Das ändert freilich wenig daran, dass die Vereinigten Staaten nach der Volksrepublik China weiterhin der weltweit größte Umweltverschmutzer sind. Willow dürfte die Bilanz kaum verbessern: In den 30 Jahren, in denen nun in Alaska gebohrt werden soll, würden Berichten zufolge fast 280 Millionen Tonnen Treibhausgase freigesetzt. Genauso gut könnten in der Zeit gut zwei Millionen Autos mehr in den USA fahren. Apropos Verkehr: Hunderte Kilometer Straße, Schotterweg, Flugpisten und natürlich Pipelines müssten für die Ölförderung auch angelegt werden. Das alles in der größten zusammenhängenden Fläche unberührter Natur in den gesamten Vereinigten Staaten.
Quellen: Erklärung US-Innenministerium; Website Conoco Phillips; AP; "New York Times"; "Grid Magazine"; "Washington Post"