Nach dem nächtlichen Trinkgelage Lübecker Jugendlicher in der Türkei, bei dem ein 21jähriger starb, liegen zwei Mitschüler immer noch auf der Intensivstation. "Ihnen geht es sehr schlecht", sagt Krankenhausdirektor Irfan Erdogan. "Wir könnten sie jeden Moment verlieren."
Am vorvergangenen Sonntag waren elf Schüler eines Lübecker Bildungszentrums mit ihrem Lehrer zu einer Klassenreise nach Kemer an der türkischen Riviera aufgebrochen. Trotz etlicher Mahnungen ihres Lehrers aber tranken sie fast ohne Pause Alkohol. Sie nutzten das "All Inclusive"-Angebot des "Anatolia Beach"-Hotels, sich an der kleinen Bar des Hauses gratis Bier oder Wodka besorgen zu können.
Tagelanger Alkoholkomsum
Hier wollte sich auch der 21jährige Rafael N. am Mittwochabend vergangener Woche einen Wodka Cola bestellen. Doch er bekam ihn nicht: in Abstimmung mit der Hotelleitung hatte sein Lehrer ihm verboten, weiterhin Alkohol zu trinken. In den Tagen und Nächten davor hatte Rafael bereits sehr viel Alkohol konsumiert; eine Klassenkameradin sprach ihn darauf an, ob er stolz darauf sei, mit einer Flasche Raki im Bett eingeschlafen zu sein. Auch sein Lehrer Albrecht S. konfrontierte den Schüler mit dem Alkoholproblem. Er werde sich nach den Ferien mit seinen Eltern in Verbindung setzen; zudem hatte der Pädagoge seine Schulleitung mit einer E-mail über die Probleme vor Ort informiert. Rafael N. aber meinte nur, er sei 21 Jahre alt und somit könne ihm sein Lehrer nichts verbieten.
Rafael N. war der Älteste der Gruppe, und seine Mitschüler orientierten sich an ihm. Wo er war, sollte Party sein. Am Strand flirtete er mit Mädchen, der schlacksige Typ machte einen sympathischen Eindruck. "Er war so der Sunnyboy", sagt Markus Weiß, ein Gast des Hotels. Der Sozialpädagoge aus Spremberg bei Cottbus verbrachte seinen Urlaub im gleichen Hotel. Er unterhielt sich mit den Schülern und sprach auch mit dem Lehrer. Dieser saß abends mit einem Kaffee in der Hotellobby und hatte seine Schüler im Blick, wenn sie immer wieder von ihren Zimmern kamen und sich an der Bar neue Freigetränke abholten. Dies war bis 22 Uhr möglich.
Wodka mit hochkonzentriertem Alkohol
Danach konnte man noch Billard spielen oder "Air Hockey", ein Geschicklichkeitsspiel auf einem größeren Tisch. Mit solch eher langweiligen Aktionen aber sollte der Mittwochabend nicht sein Ende finden. Die Stimmung war gut, und so beschlossen die Jugendlichen, ihr Geld zusammenzulegen und sich eine Flasche Wodka zu besorgen, für umgerechnet 14 Euro. Sie bekamen ihn: ob von einem Kellner an der Rezeption oder aus einem nahegelegenen Kiosk, scheint bisher noch nicht geklärt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt noch.
Und dann ging es auf das Zimmer 203, von dem man einen Seitenblick aufs Meer hat. Nun war endlich Party; so laut, dass der Hoteldirektor Osman Kafadar den Lehrer drängte, endlich für Ruhe zu sorgen. Der türkische Gastgeber hatte sich schon in den Tagen zuvor beim Lehrer über das Verhalten der Gruppe beklagt. Mehr als einmal also versuchte Albrecht S. in der Nacht seine Schüler zu ermahnen. Die schütteten sich nicht Wodka, wie sie vermuteten, sondern womöglich hochgiftigen Methylalkohol in den Kopf. Vielleicht aber war der sogenannte Wodka auch mit hochkonzentriertem Alkohol gestreckt, wie er in Duftwassern zu finden ist.
Freunde können nicht mehr klar sehen
In den vergangenen Jahren war immer wieder gepantschter Alkohol in den Umlauf gekommen. Allein 2008 starben in der Türkei über 20 Menschen nach dem Verzehr von minderwertigem Schnaps. Immer wieder hebt die Polizei Schwarzbrennereien aus: Methylalkohol schädigt Nieren, Herz, Leber und andere Organe. Am nächsten Morgen, oder besser: am Mittag, waren nur die vier Türken aus der Klasse putzmunter. Sie hatten sich so darauf gefreut, den deutschen Mitschülern ihre Heimat zu zeigen. Und den Englischlehrer Albrecht S. gebeten, ob er mitkommt und die Aufsicht übernimmt.
Jetzt klagten ihre deutschen Kumpel über Schmerzen und darüber, nicht richtig sehen zu können, verschwommen nur oder "Balken in den Augen zu erkennen". In der Tat kann der Konsum von gepantschtem Alkohol zur Erblindung führen. Die Schüler fühlten sich aber noch in der Lage, sich mit ihren türkischen Klassenkameraden zu treffen. Ihnen war ein wenig schlecht, aber niemand dachte daran, zum Arzt zu gehen, ins "Anadolu Hospital", dem gegenüberliegenden Krankenhaus.
Nur einer fehlte, Rafael N.. Der Lehrer hatte es sich während der Klassenfahrt zur Angewohnheit gemacht, seine Schüler telefonisch zu wecken; Rafael aber ging nicht ans Telefon. Mit der Zeit aber machte sich der Pädagoge immer größere Sorgen. Am Nachmittag dann beschloss er, mit Hilfe des Hoteldirektors und deutschen Hotelgästen, die Tür zu Rafaels Zimmer aufzubrechen. Gegen 17.45 Uhr, so der Hoteldirektor zu stern.de, wurde aus einer Befürchtung traurige Gewissheit: Rafael lag tot da, starr schon, mit dem Kopf auf dem Kissen. Er muss gegen 12 Uhr Uhr mittags gestorben sein.
In Lübeck, und nicht nur da, sorgt diese Nachricht seitdem für Entsetzen. Lübecks Oberbürgermeister Bernd Saxe (SPD) will den Vorfall aufklären und wirft dem mitgereisten Lehrer vor, seine Aufsichtspflicht verletzt zu haben. Versuche von stern.de, den Lehrer Albrecht S. zu erreichen, schlugen fehl. Wie es heißt, steht er unter Schock. Seine Kollegen im Lübecker Bildungszentrum Mortzfeld schätzen ihn als einen "strengen und konsequenten" Kollegen.
Aber er hat die Alkoholexzesse seiner Schüler trotz seiner Bemühungen nicht unterbinden können. Die einzige Hoffnung, die bleibt, ist, dass seine Schüler Jan L. (20) und Jean Pierre F. (18) überleben. Sie liegen weiterhin auf einer Intensivstation in Antalya.
Korrektur: Auch die Obduktion des verstorbenen Schülers Rafael N. am Universitätsklinikum Hamburg ergab, dass der 21jährige an einer Vergiftung gestorben ist. Die Methanolkonzentration im Blut lag bei zwei Promille. Als toxischer Wert gelten 0,2 Promille. Methanol oder Methylalkohol ist eine farblose und giftige Flüssigkeit und wird unter anderem als Lösungsmittel für Lacke verwandt. In den ersten Meldungen türkischer Mediziner hatte es geheißen, im Blut von Rafael N. seien 7,7 Promille festgestellt worden. Dieser Wert wurde nun von Hamburger Medizinern widerlegt. Wir haben unseren Artikel korrigiert.