Geißler und Schreiner Der Zorn der Kleine-Leute-Politiker

  • von Sebastian Christ
Ottmar Schreiner meldet sich zu Wort, mit viel Wut und einem neuen Buch. In "Die Gerechtigkeitslücke" kritisiert der SPD-Mann seine eigene Partei und dessen neuen Vorsitzenden. Unterstützung erhält er dabei von einem CDU-Recken: Heiner Geißler ist ganz seiner Meinung.

Zwei Politiker, beide jenseits der 60, sitzen mitten in Berlin und klagen an. Heiner Geißler und Ottmar Schreiner sind in unterschiedlichen Parteien erfolgreich gewesen, doch wenn man sie da so sitzen sieht, dann könnte man glauben, die Große Koalition sei erst in diesem Moment Realität geworden. Sie sind sich einig: Die Agenda 2010 war ein Fehler, und der Fehler wird fortgesetzt. Altersarmut, Kinderarmut, Armut als Massenphänomen. Die soziale Frage scheint momentan vor allem von denen diskutiert zu werden, die sie schon vor dreißig Jahren diskutiert haben. "Es ist empörend, wir haben mittlerweile eine komplette Amerikanisierung der deutschen Arbeitswelt", sagt Schreiner, und seine Worte donnern über die Lautsprecher. Kein Zweifel: Es ist die Stunde der "angry old men" der deutschen Bundespolitik.

"Linksradikale Speerspitze der SPD"

CDU-Veteran Geißler, 78, war am Dienstag nach Berlin gekommen, um den SPD-Mann Schreiner, 62, bei der Präsentation von dessen neuen Buch zu unterstützen. Er zitiert Ludwig Erhard und sagt, dass es die soziale Marktwirtschaft nicht mehr gebe. Schreiner sagt: "Dass ich auf meine älteren Jahre noch einmal dem Fanclub von Ludwig Erhard beitrete, hätte ich mir auch nicht träumen lassen." Leute wie er wären vor Jahren noch als "Sozialdemokraten der Mitte" bezeichnet worden, heute gelte er als "linksradikale Speerspitze der SPD" - und das, obwohl er sich inhaltlich nicht großartig bewegt hätte.

Wahrscheinlich würde Geißler dasselbe auch über sich selbst sagen. "Dass eine alleinerziehende Mutter mit Hartz IV bei der Einschulung ihres Kindes Papier, Stifte, Bücher und Turnschuhe aus dem Regelsatz bezahlen muss, kann niemand für richtig halten", sagt er. Und wenig später: "Unser Land ist in Unordnung." Zur Erinnerung: Die Kanzlerin ist ebenfalls Mitglied der CDU.

Rente mit 67 wurde im Kino beschlossen

In seinem Buch "Die Gerechtigkeitslücke" (Propyläen, ISBN 978-3-549-07349-0, 19,90 Euro) beklagt Schreiner den "Abschied" vom Sozialstaat. Durch die Reformen der vergangenen Jahre sei zudem der Mittelstand in Gefahr geraten. In der Pressemitteilung des Verlags heißt es: "In einem aufrüttelnden Buch, das Zahlen und Fakten nennt, und den Ausweg aus der Krise weist, rechnet der Sozialdemokrat mit dem Versagen der Politik ab, notwendige Reformen sozialverträglich zu gestalten, auch mit krassen Versäumnissen der eigenen Partei." Tatsächlich liegt die wahre Qualität vor allem in dem zuletzt genannten Punkt. Es gibt sie kaum noch, die Querdenker in den Parteien. Wahrscheinlich ist Schreiner einer der wenigen übrig Gebliebenen, die noch auf Bundesebene aktiv sind.

So übt er in seinem Buch offene Kritik an der derzeitigen SPD-Führungsspitze. Etwa, wenn er die Haltung des Umweltministers und des Außenministers zur Agenda 2010 anspricht: "Beide, Gabriel wie Steinmeier, wollen nicht wahrhaben, dass die Agenda 2010 mit der Tradition der SPD bricht." Auch der künftige SPD-Chef bekommt sein Fett weg. "Dass ausgerechnet ein sozialdemokratischer Arbeitsminister, Franz Müntefering, die 'Rente 67' unter Verweis auf die 'demographische Falle' mit allem Nachdruck betrieb, stieß bei vielen Bürgern meines Wahlkreises auf fassungsloses Unverständnis." Dann beschreibt Schreiner die entscheidende Fraktionssitzung, in der das Projekt beschlossen wurde: in einem halbverdunkelten Kinosaal, kurz vor einer Vorführung des Films "Eine unbequeme Wahrheit". Sechs Wortmeldungen, Antrag, fertig. "Diese Leichtfertigkeit im Umgang mit einer für viele Menschen existenziellen Frage ist ein Indiz dafür, wie sehr sich die Politik von der Lebenswirklichkeit vieler Menschen entfernt hat."

"Er ist ein Grenzgänger"

Um Schreiners Sonderrolle herauszustreichen, setzt Geißler zu einer mehrminütigen Erzählung des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter an. Schließlich habe auch der sich gängigen Konventionen widersetzt. Sein Fazit: "Schreiner ist der typische Abweichler gewesen, ein Grenzgänger, der aber Recht gehabt hat", so Geißler. "Solidarität ist keine Gefühlsverwirrung. Wir sind die Nächsten für alle die, die in Not sind. Dieser Grundsatz kann nicht abgeschafft werden dadurch, dass jeder für sich selbst sorgt."

Schreiner wird gefragt, warum er überhaupt noch in der SPD sei. Er antwortet trocken: "Ich habe keine Zelte hinter mir abgebrochen." Nachfrage: Sehen sie auch in Zukunft keine Perspektive in einem Parteiwechsel? "Wenn sie mir die Frage in zwei Jahren stellen, dann werde ich immer noch antworten, dass ich in der SPD bin."

Man schaut unwillkürlich zu seinem Sitznachbarn herüber: Heiner Geißler, Christdemokrat, vor 15 Monaten der globalisierungskritischen Organisation Attac beigetreten. Beide sind sie seit Jahrzehnten politisch aktiv. Sie haben viel gestritten, früher. Und man wird das Gefühl nicht los, dass sie sich im Alter so nah waren wie noch nie zuvor.

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