Wie ein notgelandetes Ufo liegt es da, ein riesiger, geduckter Fremdkörper mitten in Londons City, zwischen dem Bahnhof Paddington und einem idyllischen Kanal von Little Venice, an dem Hausboote dümpeln. Gräulich-weiß ist die glatte Fassade, oval der Grundriss, obendrauf eine zum Teil verglaste Kuppel, dennoch uneinsehbar, geheimnisvoll.
Die elektrische Glastür öffnet sich zu einem Foyer mit wenigen roten Sitzgelegenheiten. Dahinter, neben einer weiteren gesicherten Glastür, ein unscheinbarer Schriftzug, weiß auf weißem Grund: Nissan. Mehr nicht. Das europäische Designzentrum des japanischen Autoherstellers, ein ehemaliges Busdepot für Londons berühmte rote Doppeldecker, steht zwar unter Denkmalschutz, ist aber auf Besichtigungstouren so wenig eingestellt wie eine Außenstelle des Staatsschutzes. Hier arbeiten Geheimnisträger.
Hinter den Türen geht es jedoch ganz locker zu. In einem gemütlichen Aufenthaltsraum unter der Glaskuppel steht ein Billardtisch für die Pausen; die jungen Designer, viele noch in den Zwanzigern, tragen Jeans und Turnschuhe. Nur einer sticht heraus wie ein Pfau unter Wildenten. Stéphane Schwarz trägt ein edles blaues Samtsakko, eine fliederfarbene Krawatte über dem blütenweißen Hemd und spiegelblanke schwarze Slipper zur Röhrenhose. Er könnte als Modemacher durchgehen. Und das Vokabular, mit dem er einen kompakten Geländewagen-Mischling beschreibt, könnte auch für seinen eigenen Aufzug gelten. Seine Adjektive - bei Designern machen sie offenbar den Hauptteil ihres Wortschatzes aus - heißen zum Beispiel "seductive" (verführerisch), "sleek" (geschmeidig) oder "vigorous" (energisch).
Schwarz spricht von einem "technischen Cockpit", das im Gegensatz stehen soll zum entspannenden, "loungeartigen Innenraum". Von einem luftigen oberen Teil der Karosserie, einer coupéartigen Dachlinie, während die untere Hälfte Kraft und Sicherheit und Stabilität ausdrücke. Ein Auto, das alle aktuellen Bedürfnisse der Kundschaft aufgreifen soll, das alle Trends abdeckt, welche die Designer in einer Metropole wie London frühzeitig aufschnappen.
Schwarz ist Direktor von Nissan Design Europe (NDE) und hat derzeit guten Grund zu einem selbstbewussten Auftritt. Denn sein mehr als 100-köpfiges Team hat den internen Wettbewerb zu einem der aktuell wichtigsten Projekte von Nissan gewonnen. Vier Entwürfe kamen aus Tokio, zwei von Schwarz' Londoner Belegschaft.
Das Ergebnis, ein stämmiges, etwa 4,30 Meter langes Sport Utility Vehicle (SUV) mit dem internen Entwicklungscode P32L, soll künftig im umsatzstarken Kompaktsegment Nissans Priorität genießen. Denn das Gros der Kundschaft, das wollen die Marketing-Strategen erkannt haben, verlangt heute nach Autos, die vor allem anders ausschauen als das Gewohnte. Ein bisschen Geländewagen, aber trotzdem sportlich, dennoch kein reiner Sportwagen. Geräumig, ja, aber weder normaler Kombi noch biedere Limousine. Irgendwie anders halt. Hauptsache, man bleibt im Gespräch.
Carlos Ghosn (sprich: Gohn), Nissan-Chef seit 1999 und radikaler Sanierer des damaligen Pleitekandidaten, setzt jedenfalls voll auf solche neuen Fahrzeugkonzepte wie den P32L - sogenannte Crossover-Fahrzeuge. Treffen die den Nerv der Klientel, versprechen sie hohe Renditen, müssen vielleicht nicht mit ruinösen Rabatten losgeschlagen werden. Strategische Planung als Lotteriespiel.
Eine der ersten Amtshandlungen des gefeierten Retters Ghosn war es, neuen Schick zu befehlen. Viel Weitblick brauchte er für diese Einsicht allerdings nicht: Die Produkte des Herstellers waren bis dahin zwar zuverlässig und praktisch, gehörten aber zu den langweiligsten Kisten der Welt. "Wir haben damals entschieden, mit schwachem Design Schluss zu machen", sagt Shiro Nakamura, den Ghosn ebenfalls 1999 holte und zum Oberauge der Firma machte. Nakamura: "Ein Mangel an Kreativität war nicht mehr erlaubt."
In der Folge schoss seine derart angestachelte Truppe allerdings manchmal übers Ziel hinaus. Das Mittelklassemodell Primera von 2002 und der Kleinwagen Micra (2003) gerieten für den Massengeschmack zu radikal. Ihr Erfolg blieb daher hinter den Erwartungen zurück.
An der Priorität fürs Design hielt Ghosn dennoch fest. Nakamura durfte seine Sparte völlig umkrempeln. Die europäische Abteilung zog vom idyllischen Geretsried bei München ins hippe London. Bei Pacht und Umbau des Busdepots schaute der als Kostenkiller bekannte Ghosn ausnahmsweise nicht aufs Geld. Erfreulicher Nebeneffekt: Der superteure Standort London wirkt auf den Nachwuchs wie ein Lockmittel.
Fürs Verhätscheln wird den Designern natürlich eine Bedingung gestellt: Effizienz. Ghosn fordert "Hits". Das neue Auto muss besser einschlagen als Micra oder Primera und ordentlich Profit bringen. Das kann nur gelingen, wenn es Begehrlichkeiten weckt. "Wir bauen Autos nicht, um unsere Fabriken auszulasten" sagt Carlos Ghosn. "Wir bauen sie für unsere Kunden." Die sollen den Händlern das Vehikel aus den Händen reißen.
Vom konzept P32L zum fertigen Nissan QASHQAI
2002 Beginn des Projekts P32L mit ersten Entwürfen
Januar 2003 Einweihung Nissan Design Europe in London
Frühjahr 2004 Publikumstest: Präsentation der Studie Qashqa• auf dem Genfer Salon
Dezember 2004 Das Konzept für den P32L wird von allen Abteilungen im Detail schriftlich fixiert
Januar 2005 Das Design wird festgelegt
Februar 2006 Kältetests mit handgebauten Prototypen im Norden von Finnland
Juli 2006 Erste Vorserienfahrzeuge laufen im Werk Sunderland, England, vom Band. Versuche auf werkseigenen Pisten. Hitzetests mit getarnten Prototypen (Foto) in Granada, Spanien.
September 2006 Nissan-Chef Carlos Ghosn stellt das Serienauto in Paris vor und gibt den Namen bekannt
Dezember 2006 Start der Serienproduktion im Werk Sunderland
Januar 2007 Verkaufsstart in europäischen Märkten
Ende 2013 Voraussichtliches Ende des Produktzyklus
"Das ist das größte Problem", sagt Ghosn, "die exakten Kundenwünsche herauszufinden." Und diese Erkenntnisse in treffsichere Produkte umzusetzen. Der P32L könnte genau im diffusen Zielgebiet der Marketingleute liegen: Mit betonten schwarzen Kunststoffteilen an Bug und Kotflügeln sowie großer Bodenfreiheit zeigt er Anleihen von Geländewagen und vermittelt Sicherheit, ohne gleich als Ackerschlepper aufzutreten. Dafür sorgen die lange Motorhaube und das abfallende Dach - sie machen ihn sportlich. Der lichtdurchflutete Innenraum - gegen Aufpreis sogar mit einem riesigen Glasdach - soll bei den Passagieren wiederum das Gefühl vermeiden, in einem engen Flitzer oder einem politisch unkorrekten Panzer zu sitzen.
2004 ließ Nissan auf dem Genfer Salon einen Versuchsballon steigen: die Studie des P32L mit dem Zungenbrechernamen "Qashqa" (sprich: Kaschkai) - eine Mischung aus Geländewagen und Van, etwas größer als ein VW Golf.
Im Januar 2005 wurde das Design "eingefroren", die endgültige Linie und jedes Detail beschlossen. In diesen Tagen wird das Serienfahrzeug auf dem Pariser Salon der Öffentlichkeit präsentiert. Im Dezember startet im britischen Werk Sunderland die Produktion des Qashqai, so auch der lang geheim gehaltene, jetzt offizielle Name des P32L. Nur mit einem Punkt auf dem "i" statt wie vorher mit zweien.
Bis Ende 2013 soll der Lebenszyklus des P32L dauern, zu Preisen zwischen 18 000 und 28 000 Euro wird er, je nach Ausstattung und Motorleistung, verkauft werden. Qashqai, witzelt man bei Nissan und drückt die Daumen, soll eine Cashcow werden, eine Kuh, die ordentlich Milch gibt. Angepeilte Stückzahl jährlich: 108 000 Exemplare.
Ob Design, Preisgestaltung und Marketing des Qashqai richtig liegen, wird sich an dieser Planzahl sehr bald messen lassen.