Kleiner Persönlichkeitstest: Stehen Sie über den Dingen? Müssen nichts darstellen? Und sind selbstbewusst? Wenn Sie alle Fragen mit »Ja« beantworten, brauchen Sie auch kein Auto als Statussymbol. Dann wäre der Toyota Camry genau das richtige Auto für Sie. Doch nicht? Wenn Ihnen der japanische Schlitten zu unauffällig und zu langweilig ist, dann müssen Sie sich wohl doch einen Mercedes oder BMW kaufen.
In Amerika zählt der Camry mit über 400000 Zulassungen jährlich zu den Bestsellern - er war dort sogar viermal in Folge der meistverkaufte Personenwagen überhaupt. Hierzulande war der Camry dagegen bislang ein Exot. Ob der Nachfolger nun besser ankommen könnte, klärt der stern-Fahrbericht.
Glanz & Gloria: bieder.
Nach der glattflächigen, hoch aufragenden Karosse dreht sich wahrlich niemand um. Einzig die riesigen Scheinwerfer fallen als Stilelemente auf. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass die Marketingabteilung von Toyota die Hauptzielgruppe des Camry hierzulande mit »männlich, 55 Jahre und älter« ermittelt hat. Der Nachbar wird sich von diesem Auto also nicht beeindrucken lassen, aber mal ehrlich: Auf dieses Protzgehabe hat man doch ab Mitte dreißig schon keinen Bock mehr. Wer unbedingt einen Lifestyle-Schlitten als Ego-Prothese braucht, sollte sich lieber nach einem anderen Auto umsehen.
Gleiten & Geniessen: super.
Der Camry ist eine echte Autobahnsänfte, die souverän die Nerven schont. Der größere der beiden lieferbaren Motoren, ein Dreiliter-Sechszylinder, säuselt vornehm, die Viergang-Automatik wechselt die Fahrstufen beinahe unmerklich, und die Federung bügelt auch gemeine Fahrbahnunebenheiten locker aus. Außerdem ist der Camry genau das richtige Auto für Leute, die Bedienungsanleitungen hassen, denn die übersichtlich angeordneten Armaturen und Schalter erklären sich von selbst. Den Rest der Arbeit übernehmen die kleinen Helferlein: Klimaautomatik, Regensensor, automatischer Lichtschalter, elektrisch verstellbare und beheizbare Sitze - alles serienmäßig.
Gas & Spass: okay.
Wer mit dem Wagen unbedingt über kurvige Landstraßen heizen will - bitte schön. Das Fahrwerk ist zwar komfortabel, aber keineswegs so weich gespült, wie man es von einem US-Bestseller erwartet. Für den europäischen Geschmack wurde es deutlich sportlicher ausgelegt. Auch die Lenkung ist nicht so gefühllos leichtgängig, wie es die Amis bei ihren Autos mögen. Die bequemen Sitze bieten allerdings nur wenig Seitenhalt.
Kind & Kegel: riesig.
Weil der Motor vorne raumsparend quer eingebaut wurde, genießen fünf Personen Platzverhältnisse fast wie im Erste-Klasse-Abteil der Bahn. Und erst der Kofferraum: unendliche Weiten. 587 Liter Volumen bieten nicht mal die Fünf-Meter-Lulatsche der nächsthöheren Klasse - geschweige denn einer der direkten Konkurrenten wie der Opel Omega oder der Peugeot 607. Für lange Gepäckstücke gibt¿s außerdem eine Durchladeluke.
Geld & Wert: günstig.
Den Camry mit 2,4-Liter-Vierzylinder und Fünfgang-Schaltgetriebe gibt?s ab 55 448 Mark, und schon für die Basisversion ist die Aufpreisliste erfreulich kurz. Bei der Spitzenversion namens Executive mit Sechszylinder und Automatikgetriebe für 72 366 Mark sind sogar ein Navigationssystem und die Lederausstattung an Bord. Auch das Sicherheitspaket ist weitgehend komplett. Unverständlich ist allerdings, dass es den Schleuderverhinderer ESP (heißt bei Toyota VSC) nicht mal gegen Aufpreis für die Vierzylindermodelle gibt.
Fazit:
Ein komfortabler und solider Reisewagen mit kompletter Ausstattung, aber wenig Ausstrahlung. Wer ab und zu Mercedes fahren will, kann sich ja ein Taxi rufen.
Von Frank Warrings
Fotos von Peter Thomann