Scheibes Kolumne Nur zehn Prozent

Stern.de-Kolumnist Scheibe hat ein Problem: Er nutzt nur zehn Prozent der Funktionen, die seine technischen Geräte ihm zur Verfügung stellen. Das wurmt ihn mächtig, ist aber leider nicht zu ändern. Die Handbücher hat er nämlich schon längst verbummelt.

Vor Jahren hieß es einmal in der Computerpresse: Neunzig Prozent aller Anwender würden nur zehn Prozent der Funktionen nutzen, die von der Textverarbeitung Word angeboten werden. Stolz schlug ich mir damals auf die Brust und posaunte bei allen heraus, die es nicht hören wollten: Ich sei einer der zehn Prozent, die neunzig Prozent der Funktionen kennen würden. Noch heute weiß ich genau, wie man Seitenzahlen auf den geraden und ungeraden Word-Seiten individuell formatiert, wie man Formatvorlagen anlegt und wie man Tabellen richtig schön gestaltet. Kein Wunder: Ich habe - hört! hört! - ein dickes Buch über Word geschrieben und zwei Zeitschriften von vorne bis hinten mit entsprechenden Workshops gefüllt. Da bleibt schon etwas hängen.

Diese Zeiten sind vorbei

Heute sieht das leider ganz anders aus. Bei meiner Digitalkamera weiß ich nur noch so in etwa, wie man den Blitz verstellt oder in den Makrobereich wechselt. Ich habe aber nicht den blassesten Schimmer, wie ich den Selbstauslöser einstelle, wie ich einen Weißabgleich durchführe oder wie ich die Schnellfotografierfunktion nutze, die mehrere Bilder auf einmal schießt, sodass ich mir anschließend den besten Schnappschuss aussuchen kann. Das gedruckte Handbuch zur Kamera habe ich natürlich schon längst verbummelt. Aber was nützt es auch? Die 300 Seiten enthalten ja doch nur dasselbe unverbindliche Blabla in 40 verschiedenen Sprachen. Das Problem ist für mich, dass es mir nicht mehr möglich ist, die einzelnen Funktionen intuitiv selbst zu finden. Die drei Knöpfe auf der Rückseite der Kamera sind mit so vielen Funktionen verknüpft und überfrachtet, dass es mir unmöglich ist, durch Ausprobieren herauszufinden, was die Kamera kann und was nicht. So muss ich mich zähneknirschend damit begnügen, nur zehn Prozent der Funktionen zu nutzen - und davon zu träumen, auch den Rest einmal zu entdecken.

Schmach in tiefer Nacht

Die völlige Hilflosigkeit habe ich bei einem einfachen Werbegeschenk erfahren müssen. Letztens bekam ich einen Stiftehalter geschenkt, der auf der Frontseite in einem LC-Display auch noch das Datum, die Uhrzeit und die Temperatur anzeigt. Über das kleine Weckersymbol auf dem Display haben wir uns zunächst noch keine Sorgen gemacht. Bis auf einmal morgens um vier Uhr der Wecker lostüdelte und die ganze Familie weckte. Versuchen Sie doch einmal, einen Wecker auszustellen, wenn drei Schlafmützen laut brüllen: "Jetzt stell doch endlich das doofe Ding aus, wir wollen weiterschlafen." Das Gerät hatte zwar vier Knöpfe - immerhin einen mehr als die Kamera. Trotzdem war es mir nicht möglich, den Wecker auszuschalten, geschweige denn, das Weckersymbol vom Display zu entfernen. Es ist eine Schmach für mich als Mann: Meine Frau musste nachts im Papierkorb nach der Gebrauchsanweisung kramen, um mir beizustehen. Da stand es dann schwarz auf weiß: Knopf A musste zehn Sekunden lang gedrückt werden, bevor man mit Knopf B den Wecker verstellen kann. Bei diesem Gegenstand hätte ich mir gewünscht, wenn es die Erfinder bei den 10 Prozent aller Funktionen belassen hätten, die 90 Prozent der Anwender nutzen. Denn die übrigen 90 Prozent machen mir nur Ärger.

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So viele verschenkte Möglichkeiten

Bei mir stapeln sich inzwischen die Geräte, die von mir nur rudimentär genutzt werden. Der PocketPC kann auch Sprachnotizen aufzeichnen? Das wäre ja super, eine tolle Hilfe für Interviews. Ich weiß aber nicht, wie das funktioniert. Der Ipod kann Zufallslisten abspielen. Super! Aber wie? Meine externe Festplatte kann mit einem Knopfdruck auf der Geräteaußenseite ein komplettes Backup meiner wichtigsten Dateien durchführen? Toll. Aber wie funktioniert das? Immerhin weiß ich, wie man mit dem Laserdrucker automatisch beidseitig drucken kann, wie man den Palm-PDA als MP3-Player missbraucht und wie man auf Geschäftsreisen DVDs auf dem Notebook schauen kann.

Trotzdem: Ich finde echt nicht mehr die Zeit wie früher, eine neue Hardware so zu durchleuchten und kennen zu lernen, dass ich am Ende jedes einzelne Feature kenne. Ich glaube, ich werde langsam zu alt für diese schöne, neue Welt. Wie meine Mutter. Die weigert sich seit zwanzig Jahren, den Videorekorder der Familie anzufassen. "Das kann ich nicht", sagt sie dann immer und hebt entschuldigend die Schultern. Ich glaube, den Spruch werde ich mir merken müssen.

Eine Glosse von Carsten Scheibe, Typemania

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