Die Geheimdienste in Europa wissen, welche extremistischen Gruppen mit hoher Wahrscheinlichkeit den nächsten großen Terroranschlag planen. Sie haben ein enges Netz der Überwachung gespannt. Aber Kenntnis und Beobachtung der Verdächtigen bedeuten keineswegs, dass die Bedrohung abgewendet werden kann. Dies erklärten mehrere hohe Sicherheitsbeamte in Interviews der Nachrichtenagentur AP. Die meisten von ihnen halten einen neuen großen Terroranschlag in Europa für möglich - wie am 11. März 2004 in Madrid oder am 7. Juli 2005 in London. Begründet wird dies damit, dass die Mittel für einen Anschlag relativ leicht zu beschaffen sind. Auch registrieren die Geheimdienste ein zunehmendes Gefühl von Wut und Isolation in islamisch-extremistischen Kreisen.
"Sie kommen von überall"
Das Internet ermöglicht es ihnen, ihre radikale Gesinnung ohne großen Aufwand zu verbreiten. Einige Extremisten lassen sich dabei von Osama bin Ladens Aufruf zu einem weltweiten Dschihad motivieren. Ansonsten operieren sie aber weitgehend unabhängig von der al Kaida-Führung. "Es gibt kein Profil, sie kommen von überall", sagt der stellvertretende Leiter des Hamburger Landesamtes für Verfassungsschutz, Manfred Murck. "Alles ist möglich, und man kann nur versuchen, so nah wie möglich an der ganzen Gruppe dran zu bleiben."
Die Londoner Anschläge auf die U-Bahn und den Busverkehr sind ein dramatischer Beleg für diese Einschätzung. Zwei der Täter waren zuvor schon an der Peripherie von Terror-Ermittlern aufgetaucht. Aber die Behörden schätzten die von ihnen ausgehende Gefahr als nicht so groß ein, um sie zu verhaften oder zumindest genauer zu beobachten. Auch vor den Anschlägen auf die Vorortzüge von Madrid standen mehrere Bombenleger unter Beobachtung der Behörden. Ende Februar 2004 stoppten sie das Auto des Chefstrategen der Gruppe. Ein hoher Geheimdienstbeamter sagte, die Ermittler hätten vermutet, dass sie es mit Drogenhändlern zu tun hätten. Sie hatten demnach keinerlei Hinweis darauf, dass sie einer Gruppe auf der Spur waren, die wenig später die Bomben legte, die 191 Menschen in den Tod rissen.
Datenschützer und Bürgerrechtler besorgt
Nach den Erfahrungen von Madrid und London haben die Geheimdienste überall in Europa ihre Überwachung so sehr ausgeweitet, dass Datenschützer und Bürgerrechtler zunehmend besorgt sind. In Spanien wurde die Zahl der Terrorfahnder verdreifacht. In ihrem Visier seien etwa 250 Personen, sagt ein hoher spanischer Geheimdienstbeamter, der wegen des sensiblen Themas seinen Namen nicht genannt wissen will. Er sei sich sicher, dass einer aus diesem Personenkreis mit dabei sei, wenn ein neuer Anschlag geplant werde. Aber ohne konkrete Beweise könnten die Behörden wenig gegen sie unternehmen. Und weil die Extremisten ohne zentrale Kontrolle seien, könnten ihre nächsten Schritte kaum vorhergesagt werden.
Die größte Bedrohung geht nach Einschätzung der Ermittler von Personen aus, die in Europa aufgewachsen sind, aber enge Kontakte zu radikalen Kräften in ihren früheren Heimatländern unterhalten. Die meisten Terroristen der Madrider Anschläge vom 11. März waren Einwanderer aus Nordafrika. Die Londoner Anschläge wurden von britischen Staatsbürgern verübt, von denen drei aus Pakistan und ein vierter aus Jamaika stammten. Der Mordanschlag auf den niederländischen Filmregisseur Theo Van Gogh wurde von einem Niederländer marokkanischer Abstammung verübt.
Al Kaida ist "diffuse, amorphe Organisation" geworden
In keinem Fall gab es offenbar eine direkte Verbindung zum Terrornetz der al Kaida. Die britischen Behörden untersuchen aber noch zwei Reisen nach Pakistan, die zwei der Bombenleger im Jahr vor den Londoner Anschlägen unternommen haben. Die Geheimdienstexperten vermuten, dass die Zerstörung der al Kaida-Lager in Afghanistan und die Verhaftung führender Mitglieder die Fähigkeiten der Organisation geschwächt haben. "Man kann heute nicht länger von einer zentralen Führungsrolle der al Kaida sprechen", sagt der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Heinz Fromm. Bin Ladens Gruppe sei "eine diffuse, amorphe Organisation" geworden, die Terroristen eher mit Inspiration als mit einer führenden Hand versorge.
Weitere Inspiration finden Extremisten in der wachsenden Frustration islamischer Gemeinschaften in Europa. Explodiert ist diese Stimmung im Herbst vergangenen Jahres in den Vorstädten von Paris, Lyon und anderen französischen Städten. Vor allem die Jugendlichen betrachten sich dort als ausgeschlossen von den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Möglichkeiten ihres Landes. Zusätzlichen Ärger machte zuletzt die Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen in europäischen Zeitungen. Seitdem sei die Zahl der Drohungen erheblich gestiegen, sagt der dänische Geheimdienstchef Lars Findsen.
Treffpunkt Internet-Chat-Rooms
Treffpunkt der Extremisten ist das Internet. Das Computernetz spiele eine wichtige Rolle in der Radikalisierung und löse die Moscheen als wichtigster Sammelpunkt potenzieller Terroristen ab, sagt der Direktor des niederländischen Geheimdienstes AIVD, Sybrand van Hulst. Die Untersuchung der Computer der Madrider Terroristen ergab, dass diese mehrmals die Web-Sites islamischer Extremisten aufgesucht hatten, vor allem die Web-Site Global Islamic Media, die mit Al Kaida in Verbindung gebracht wird. Ein Ergebnis der engen Internet-Kommunikation sehen die Fahnder auch in der Tatsache, dass bei den Anschlägen in London und in Casablanca am 16. Mai 2003 die gleiche Art von Sprengstoff auf der Basis von Peroxid verwendet wurde. "Die Terroristen kennen sich nicht, aber in Internet-Chat-Rooms sprechen sie viel über das, was sie getan haben und welche Fehler sie begangen haben", sagt ein spanischer Geheimdienstbeamter. "Sie haben Rezepte. Das ist das klassische Do-It-Yourself-Handbuch."
Während die Anschläge vom 11. September sehr aufwendig waren und über internationale Bank-Transaktionen langwierig finanziert wurden, waren die späteren Anschläge in Europa weit weniger kostenintensiv. Für die Madrider Anschläge haben die Täter etwa 100.000 Euro ausgegeben. Das Geld sammelten sie vor allem durch den Verkauf von Haschisch. Die Londoner Anschläge kosteten nach Angaben von Innenminister John Reid lediglich 8000 Pfund (11.700 Euro). Der norwegische Terrorexperte Björgo sagt: "Das sind keine teuren Operationen."