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J. Peirano: Der geheime Code der Liebe Mein drogensüchtiger und krimineller Bruder nimmt mir meine Eltern weg

Sucht belastet die ganze Familie (Symbolbild)
Sucht belastet die ganze Familie (Symbolbild)
© Motortion / Getty Images
Weil ihr Bruder mit Suchtproblemen kämpft, dreht sich Tatjanas Familienleben nur um ihn. Wie kann sie ihren Eltern vermitteln, dass sie das nicht länger mitmacht?

Liebe Frau Peirano,

ich bin 37 und die Älteste von drei Geschwistern. Ich habe noch zwei jüngere Brüder (34 und 25). Mein jüngster Brüder (Dennis) war schon immer sehr schwierig, hatte ADHS, hat gestohlen, sich mit den Lehrern geprügelt, mehrere Schulverweise bekommen. Mit 15 wurde er dann drogensüchtig - erst Marihuana, dann Kokain und chemische Drogen.

Er hat gedealt, Autos geknackt, sich bei allen im Umfeld Geld geliehen und natürlich nie zurück bezahlt. Meinen Eltern hat erst oft Geld gestohlen. Bei uns zu Hause war früher immer Aufregung, und ich als die große Schwester bin immer eingesprungen. Ich habe ihm bei den Hausaufgaben geholfen, ihm ins Gewissen geredet, ihn gesucht, wenn er mal wieder tagelang unterwegs war.

Er wurde häufiger verhaftet und bekam Jugendstrafen. Als er 19 war, kam er drei Jahre ins Gefängnis. Ich weiß nicht, was er alles noch angestellt hat, Körperverletzung, möglicherweise Vergewaltigung wurde ihm auch vorgeworfen.

Man kann meinem Bruder nichts glauben, er behauptet immer, er sei unschuldig. Es war immer Stress bei uns zu Hause, und ich durfte mit niemandem darüber reden und habe mich sehr geschämt.

Ich bin mit 23 nach dem Studium ins Ausland gegangen. Ich wollte nur weg von meiner Familie und den ganzen Problemen mit meinem Bruder. Natürlich habe ich vom Ausland aus versucht, meinen Eltern Beistand zu geben. Ich bin jedes Jahr mit ihnen (auf meine Kosten) in den Urlaub gefahren, damit sie mal rauskommen. Ich rufe meine Mutter täglich an und helfe ihr im Haushalt, wenn ich zu Hause bin. Erst vor drei Jahren bin ich wieder nach Hause gekommen, weil ich hier einen Freund habe. Ich wohne jetzt 50 km von meinen Eltern entfernt.

Nachdem es im ersten Jahr ruhig war, weil mein Bruder selbst irgendwo im Ausland untergetaucht war und keiner wusste, wo er war, ist er im Oktober 2021 zurück gekommen. Meine Eltern haben ihn bei sich aufgenommen, weil er ja sonst obdachlos wird. Und seitdem ist er bei ihnen und macht auch keine Anstalten, sich eine Wohnung oder Arbeit zu suchen.

Mein mittlerer Bruder hat ein recht dickes Fell. Ihn stört es nicht, dass Dennis bei den Eltern ist. Die beiden spielen Computerspiele, als wäre nichts.

Aber mich stört es extrem, dass sich jetzt alles wieder um Dennis dreht. Meine Eltern sind völlig am Ende, streiten sich nur noch, und sie lassen alles stehen und liegen. Die Wohnung ist dreckig, meine Mutter geht nicht mehr zum Sport, mein Vater hat stärkere Rückenschmerzen als je zuvor. Aber wenn ich sie darauf anspreche, zucken sie mit den Schultern und sagen: Was sollen wir denn machen? Er ist unser Sohn. Wir können ihn ja nicht auf die Straße setzen.

Ich kann mich richtig darüber aufregen. Dennis nutzt das schamlos aus, belügt meine Eltern und erzählt, dass er bald Aussicht auf eine Wohngruppe/einen Job/eine eigene Wohnung hätte. Das sind aber alles nur Hirngespinste, um meine Eltern hinzuhalten.

Mein Problem ist nun, dass ich meine Eltern eigentlich nicht mehr habe. Früher wurde mir eingeredet, dass ich egoistisch bin und an mich denke, wo es meinem Bruder doch so schlecht geht. Heute habe ich - nach vielen Selbsthilfebüchern - erkannt, dass ich nicht egoistisch bin, wenn ich mir wünsche, Eltern zu haben, bei denen ich eine Rolle spiele. Aber ich habe erkannt, dass ich bei meinen Eltern nur als die starke Tochter zähle, die die Familie unterstützt, allen hilft und sich nie beklagt. Wenn ich meinen Eltern von meinem Leben und meinen Sorgen erzähle, dreht sich das Gespräch schnell wieder um das Leben meiner Eltern und vor allem um Dennis.

Ich habe Weihnachten gesagt, dass ich nicht mit meinen Eltern feiern will, wenn Dennis dabei ist. Da war die Hölle los! Meine Mutter machte mir riesige Vorwürfe, wie ich so etwas sagen könne.

Danach war drei Wochen Funkstille und ich habe Weihnachten alleine gefeiert - auch weil Dennis meine Eltern mit Corona angesteckt hatte und sie in Quarantäne waren.

Aber das Problem bleibt: Meine Eltern wollen mich nur sehen, wenn ich zu ihnen nach Hause komme, und da ist Dennis. Da ist Unordnung, es riecht schlecht, meine Brüder spielen Computerspiele und meine Eltern lassen sich belügen und sind am Jammern. Und ich kann eigentlich nur einmal alles in Ordnung bringen (putzen, einkaufen, kochen usw.) und weiß, dass es in zwei Tagen gleich wieder so aussieht, oder ich setze mich dazu und ertrage das. Das kann ich aber nicht. Ich bin selbst sehr gepflegt und ordentlich und fühle mich sehr unwohl in der Verwahrlosung.

Ich habe keine Idee, was ich machen kann, um doch noch ein gutes Verhältnis mit meinen Eltern zu haben. Dennis habe ich längst abgeschrieben. Ich bin so wütend nach all den Jahren, dass ich eigentlich nichts mehr mit ihm zu tun haben möchte.

Ich hoffe, Sie haben einen Rat für mich.

Viele Grüße

Tatjana W.

Liebe Tatjana W.,

je länger ich als Psychotherapeutin arbeite, desto bewusster wird mir, dass viele, wenn nicht sogar die meisten Probleme nicht Probleme einer einzelnen Person sind, sondern das ganze familiäre und soziale Umfeld betreffen.

Ihr Bruder Dennis ist mit seiner Drogensucht und seinem antisozialen Verhalten (stehlen, lügen, möglicherweise vergewaltigen) der sogenannte Symptomträger. Seine Probleme stehen in der ganzen Familie im Vordergrund. Aber jeder andere in Ihrer Familie ist auch betroffen (und möglicherweise haben auch einige in Ihrer Familie dazu beigetragen, dass seine Probleme entstanden sind und stärker wurden. Dazu kommen wir noch).

Sie selbst sind in die Rolle der starken, großen Schwester geraten, die - so wie es durchklingt - ihr Leben gut im Griff hat, in geordneten Verhältnissen lebt und versucht, sich durch Selbsthilfebücher von den Probleme Ihrer Herkunftsfamilie zu befreien.

Und ich wage zu behaupten, dass Sie eigentlich nicht erst jetzt keine Eltern mehr haben, sondern schon als Kind mit Ihren Eltern die Rollen getauscht haben. Sie waren die Vernünftige, die versucht hat, die Probleme Ihrer Eltern zu lösen und für diese zu sorgen. Das ist hart und muss Sie Zeit Ihres Lebens sehr überfordert haben! Und Ihre Eltern konnten sich hilflos zeigen.

Dr. Julia Peirano: Der geheime Code der Liebe

Ich arbeite als Verhaltenstherapeutin und Liebescoach in freier Praxis in Hamburg-Blankenese und St. Pauli. In meiner Promotion habe ich zum Zusammenhang zwischen der Beziehungspersönlichkeit und dem Glück in der Liebe geforscht und anschließend zwei Bücher über die Liebe geschrieben.

Informationen zu meiner therapeutischen Arbeit finden Sie unter www.julia-peirano.info.

Haben Sie Fragen, Probleme oder Liebeskummer? Schreiben Sie mir bitte (maximal eine DIN-A4-Seite). Ich weise darauf hin, dass Anfragen samt Antwort anonymisiert auf stern.de veröffentlicht werden können.

Ihr mittlerer Bruder scheint auch einen hohen Preis zu bezahlen. Er hat sich anscheinend ein dickes Fell wachsen lassen und dabei die Fähigkeit eingebüßt, zu seinen Gefühlen Kontakt zu haben und sich von ihnen leiten zu lassen. Er schwimmt mit dem Strom, schaut und fühlt nicht so genau hin und folgt somit auch der unausgesprochenen Familienregel: "Mach uns nicht auch noch Ärger!" Er versteht sich mit allen, verzichtet auf einen eigenen Standpunkt und macht mit bei der familiären Verleugnung, die für Familien mit einem Suchtproblem so typisch sind.

Ihre Eltern sind auch sehr mit der Verleugnung und Verdrängung beschäftigt. Sie verharmlosen das Problem (der Sohn ist drogensüchtig und kriminell), sprechen nicht darüber und denken demzufolge auch nicht darüber nach, welche Hilfe bei Ihrem Bruder wirklich ankommen würde.

Eigentlich erhalten Ihre Eltern Dennis’ Problemverhalten aufrecht, indem sie ihn immer wieder bei sich wohnen lassen, ohne zu fordern, dass er sich verantwortlich verhält. Sie könnten zum Beispiel von ihm  als erwachsenem Sohn fordern, dass er sich am finanziellen Haushalt angemessen beteiligt, Aufgaben erledigt und eine Perspektive nennt, wann erst wieder auf eigenen Füßen steht (oder in einer betreuten Wohngruppe wohnt). Ihre Eltern lassen sich von Dennis belügen, sie lassen sich bestehlen und sie lassen ihn im wahrsten Sinne des Wortes spielen.

Und dabei nehmen Ihre Eltern in Kauf, dass sie selbst körperlich und psychisch überfordert sind, dass Ihre Wohnung und Ihr Leben aus der Ordnung gerät und dass sie ihre Tochter verlieren.

Es muss Sie sehr schmerzen, dass Ihre Eltern Ihren Bruder, der sich ja klar antisozial verhält, bevorzugen. Das alles spricht dafür, dass Ihre Eltern co-abhängig sind. Co-Abhängigkeit tritt fast immer auf, wenn ein naher Angehöriger eine Sucht hat oder psychisch krank ist. Dann dreht sich der Partner/die Partnerin nur noch um die Probleme oder das Verhalten des (Sucht-) Kranken und vernachlässig sich selbst und seine eigenen Bedürfnisse und Gefühle. Leider ist Co-Abhängigkeit sehr hartnäckig, oft genau so hartnäckig wie die Sucht des Suchtkranken.

Ich habe mir als Therapeutin schon oft die Zähne ausgebissen bei Co-Abhängigen.

Einmal hatte ich einen Mann in Therapie, dessen Freundin trank, dabei aggressiv und verletzend wurde. Sie war kaum noch arbeitsfähig und er betreute ihre Tochter aus erster Ehe.

Kaum hatten wir die Co-Abhängigkeit thematisiert und offen gelegt, schrieb er mir in einer kurzen Email, dass er die Therapie nicht mehr brauche. Er heirate jetzt seine Freundin.

Ich habe immer noch ein mulmiges Gefühl, wenn ich daran denke, was wohl aus den beiden geworden ist.

Bestimmt hilft es Ihnen, sich mit dem Phänomen Co-Abhängigkeit zu beschäftigen, um zu erkennen, was mit Ihren Eltern los ist und warum diese Sie so enttäuschen.

Empfehlenswert ist z.B.

"Co-Abhängigkeit. Die Sucht hinter der Sucht." Von Anne Wilson-Schaef

"Ich will mein Leben zurück. Hilfe für die Angehörigen von Suchtkranken" von Jens Flassbeck

Machen Sie sich keine zu großen Hoffnungen, dass Ihre Eltern sich ändern werden. Wichtig ist es, dass Sie den Fokus auf sich selbst setzen und Ihre eigenen Grenzen klar benennen. In Familien mit Suchtkranken ist ein zentrales Problem das Fehlen von angemessenen Grenzen.

Bieten Sie Ihren Eltern am besten nur Kontakt außerhalb des Hauses (z.B. bei Ihnen, in einem Café) an und erhalten Sie den Wunsch aufrecht. "Ich bin auch euer Kind und ich möchte Zeit mit euch verbringen, wo es nur um euch und um mich geht und nicht um Dennis."

Appellieren Sie ruhig daran, dass Sie Ihre Eltern brauchen. Das ist ein wichtiges Motiv von Co-Abhängigen. Dennis gibt Ihren Eltern das Gefühl, gebraucht zu werden. Eine zwangsläufig so starke und eigenständige Tochter gibt Ihren Eltern das Gefühl nicht.

Am besten suchen Sie eine Selbsthilfegruppe für Angehörige von Drogensüchtigen (oder auch Alkoholkranken) auf. Das gibt Ihnen Rückhalt, wenn Sie hören, dass es anderen ähnlich geht.

Es ist sehr wichtig, dass Sie Ihren eigenen Weg gehen und sich ein stabiles Leben unabhängig von Ihrer Familie aufbauen und dabei sehr feinfühlig auf Ihre Grenzen achten.

Herzliche Grüße und alles Gute für Sie,

Julia Peirano

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