Liebe Frau Dr. Peirano,
ich schreibe Ihnen in einer großen seelischen Not. Es gibt ein Problem, das immer wiederkehrt und mich mindestens dreimal im Jahr massiv aus der Bahn wirft.
Ich bin 43 Jahre alt, mein Mann 46, wir sind seit über 20 Jahren zusammen und haben zwei Kinder.
Ich bin selbstständig, mein Partner und ich haben uns immer maximal unterstützt. Das ist auch das Besondere an unserer Beziehung: Ich bekomme alles, was ich möchte und brauche, nur eben das Eine nicht.
Wir haben eine besondere Beziehung. Wir haben es uns nie nehmen lassen, ein Liebespaar zu sein, wir gehen oft ohne die Kinder aus oder fahren ohne Kinder in den Urlaub. Haben drei intensive Hobbys gemeinsam, haben immer noch einen mega Sex, können noch stundenlang miteinander reden und lachen.
Ich liebe diesen Mann mit Haut und Haar, ständig könnte ich ihn streicheln und umarmen. Das ist auch bei meinen Kindern so, ich bin maximal zärtlich, sensibel und einfühlsam. Er hingegen überhaupt nicht – zumindest phasenweise.
Wir sind in dieser Hinsicht grundverschieden. Er könnte auf einer einsamen Insel leben und wäre glücklich. Ich hingegen benötige meinen großen Freundeskreis, Telefonate, bin ständig im Kontakt und auf Achse. Er pflegt keinen eigenen Freundschaften. Wenn er was getrunken oder gekifft hat, wird er sentimental und schwärmt von unserer großen Liebe, der Reinheit dieser, wie sehr er mich liebt …
Aber das eben nur dann. Ich weiß nicht, wann er mir das mal ohne diese Rauschmittel sagt. Ich bekomme keine Komplimente, außerhalb der Feste keine Geschenke, keine zärtlichen Berührungen, NICHTS.
Das sind immer Phasen. Manchmal läuft es ein paar Monate akzeptabel, dann küsst er mich von sich aus und nimmt mich in den Arm. Aber es gibt immer wieder Phasen, wo wirklich NULL kommt.
Ich streichle ihn, er streichelt nicht zurück. Das kann ich wochenlang ertragen, dann kommt eine große Krise, in der es sich in mir anfühlt wie eine riesige innere Leere und Dunkelheit. Ich verliere meine Fröhlichkeit, bin weinerlich, heule oft, werde zickig und kann nachts nicht mehr schlafen.
Ich bin zunehmend ratloser. Ich kann so viel Liebe geben, aber anscheinend will mein Mann diese nicht.
Seit vielen Jahren führe ich diese Gespräche mit ihm, dennoch kommen die Phasen, in denen er sich komplett aus der Zuneigung raus nimmt. Er sagt, dass er mir seine Liebe auf anderem Weg zeige, aber davon habe ich nichts.
Wir haben einen Hund, den streichelt er ständig, zu den Kindern ist er ebenfalls dauerhaft zärtlich. Warum zu mir nicht?
Ich bin seelisch ausgelaugt und weiß nicht mehr weiter.
Ich kann es kaum ertragen, andere Paare zu treffen, wenn die zärtlich zueinander sind.
Haben Sie einen Rat für mich?
Viele Grüße
Lena H.
Liebe Lena H.,
ich kann Ihre Verzweiflung gut nachfühlen. Es hört sich so an, als wenn Sie innerlich verdursten. Und während Sie in dieser inneren Wüste sind, haben Sie den Eindruck, dass Ihr Mann über reichlich Wasser verfügt und dieses mit den Kindern und dem Hund teilt, aber Ihnen nichts davon abgibt.
Gleichzeitig würde ich Ihnen gerne erst einmal den Eindruck wieder spiegeln, den Ihr Schreiben bei mir hinterlassen hat. Wir Therapeut:innen werden darin geschult, die Gefühle genau wahrzunehmen, die unser Gegenüber (insbesondere unser:e Patient:in) in uns auslöst und diese Gefühle therapeutisch zu nutzen. Wenn zum Beispiel ein Patient mich öfter gönnerhaft abkanzelt und kritisiert und ich mich fühle wie ein Schulmädchen, das zum Schuldirektor zitiert wird, dann gehe ich erst einmal davon aus, dass da ein Macht- und Abwertungsthema an mich herangetragen wird und spreche das an. Wahrscheinlich wird der besagte Patient auch mit anderen Menschen (insbesondere Frauen) in seinem Umfeld ähnlich umgehen, und dadurch hat man einen Anhaltspunkt, warum z.B. seine Frau, Tochter, Freundin oder Kollegin die Krallen ausfährt oder sich zurück zieht.

Dr. Julia Peirano: Der geheime Code der Liebe
Ich arbeite als Verhaltenstherapeutin und Liebescoach in freier Praxis in Hamburg-Blankenese und St. Pauli. In meiner Promotion habe ich zum Zusammenhang zwischen der Beziehungspersönlichkeit und dem Glück in der Liebe geforscht, anschließend habe ich zwei Bücher über die Liebe geschrieben.
Informationen zu meiner therapeutischen Arbeit finden Sie unter www.julia-peirano.info.
Haben Sie Fragen, Probleme oder Liebeskummer? Schreiben Sie mir bitte (maximal eine DIN-A4-Seite). Ich weise darauf hin, dass Anfragen samt Antwort anonymisiert auf stern.de veröffentlicht werden können.
Ihr Brief erreichte mich handschriftlich per Post, in meiner Privatpraxis, die zugleich in meinem Haus ist. Das ist ein sehr ungewöhnlicher Weg, mit mir Kontakt aufzunehmen. Ich habe ein Email-Postfach für diesen Blog, und einige Menschen schreiben mir an meine Praxis-Emailadresse, die ebenfalls öffentlich im Netz steht.
Ihr handschriftlicher, dicker Brief in meinem Briefkasten löste in mir zuerst sehr intensive und gemischte Gefühle aus.
Zum Einen sah ich beim Lesen Ihrer 8 Seiten, dass Sie in großer seelischer Not sind und die Hoffnung haben, dass ich Ihnen helfe. Ihr Schreiben war sehr dringlich formuliert und das hat mich berührt.
Zum Anderen empfand ich die Art, wie Sie Kontakt aufgenommen haben, auch als fordernd. Ein handgeschriebener, dicker Brief an meine Privatpraxis ist "gewichtiger" als eine Email in meinem Postfach für diesen Blog und kommt einem auch näher, was mir offen gestanden ein bisschen zu nah war.
Dazu kommt, dass ein handgeschriebener Brief bedeutet, dass ich ihn erst einmal abtippen muss, um ihn zu digitalisieren. Deshalb empfand ich dies als etwas unbedacht in Bezug auf meine Situation und meine Mühe, Ihr Thema zu verarbeiten.
Ein Buch, das die großen Fragen des Lebens beantwortet – und gesellschaftliche Tabus illustriert

Ich war zunächst hin-und hergerissen zwischen zwei Impulsen. Ein Impuls war, meinem Gefühl nachzugeben, dass ich Ihre Art der Kontaktaufnahme etwas übergriffig fand und deshalb den Brief einfach zu entsorgen. Das hätte wiederum ein schlechtes Gewissen erzeugt, da Sie sich so viel Mühe gegeben haben.
Und auf der anderen Seite empfand ich Mitgefühl über Ihre Verzweiflung und Ihr Leid und hatte den Impuls, Ihnen zu antworten.
Erst als ich beschlossen habe, Ihnen auch die Gefühle mitzuteilen, die Sie in mir ausgelöst haben, wurde es eine runde Sache. Ansonsten hätte ich mich etwas in die Ecke getrieben gefühlt.
Ich schreibe Ihnen das so detailliert, weil ich mich frage, ob Ihr Mann sich manchmal auch von Ihnen zu etwas gedrängt fühlt. Er weiß, dass Sie mehr Zuneigung und Zärtlichkeit wollen, als Sie bekommen, und das wird ihn stressen.
Er weiß genau, wie sehr Sie leiden, und das wird ihn nicht kalt lassen, da er Sie liebt. Er weiß auch, dass er in Ihren Augen die Ursache für Ihr Leid ist, und das macht es wahrscheinlich noch schlimmer für ihn. Kann es sein, dass er genau so blockiert ist wie ich es für ein paar Stunden nach dem Erhalt Ihres Briefes war? Dass er Ihnen einerseits nah sein möchte, aber andererseits das Gefühl hat, dass bildlich die Wüste so trocken ist, dass sein bisschen Wasser nicht ausreichen würde? Und dass sich etwas in ihm sträubt, mehr zu geben, als es für ihn passend ist?
Es ist ja so, dass Partner in einer Partnerschaft aufeinander reagieren und sich so in bestimmte extreme Verhaltensweisen treiben (können). Wenn zum Beispiel mein Ex-Partner im Haushalt kaum einen Finger gerührt hat, habe ich gelernt zu resignieren, zu schimpfen und die Dinge schnell selbst zu erledigen, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass es nichts bringt, ihn um Hilfe zu bitten.
Wenn mein neuer Partner extrem zupackend und hilfsbereit ist und den Urlaub schon geplant hat, bevor ich überhaupt daran denke, den Einkauf und die Gartenarbeit im Handumdrehen erledigt und mich verwöhnt, dann werde ich vielleicht etwas bequem und lasse mich einfach fallen. Denn er wird es ja schon machen. Zwei verschiedene Partner lösen also in mir ein komplett anderes Verhaltensmuster aus.
Insbesondere das Thema "Nähe und Distanz" ist in einer Partnerschaft sehr abhängig vom Verhalten des Partners. Wenn einer von beiden - in diesem Fall Ihr Mann - den Distanzpol für sich beansprucht, dann kämpft der andere Partner - in diesem Falle Sie - mehr um die Nähe.
Und leider ist es so: Je mehr der eine sich um Nähe bemüht, desto mehr Distanz sucht der andere.
Es gibt ein Video von einem südamerikanischen und einem nordeuropäischen Therapeuten, die sich in einem ca. einstündigen Gespräch befinden, und zwar stehend auf einer Bühne. Der Südamerikaner sucht immer mehr Nähe und geht (unbewusst) auf den nordeuropäischen Kollegen zu, der wiederum (unbewusst) immer mehr zurück weicht. Zur Belustigung der zuschauenden Therapeuten bewegen die beiden sich dabei unbewusst durch den ganzen Raum und behalten dabei ihre Rollen inne: einer sucht Nähe, der andere sorgt für Distanz.
So kommt mir die Paardynamik in Ihrer Beziehung auch vor. Ihr Mann hat vermutlich den Eindruck, dass es nicht reicht, was er macht, weil Sie so viel Nähe brauchen, dass es sich anfühlt wie ein Tropfen auf in der heißen Wüste. Er zeigt seine Liebe auf viele Arten, auf die partnerschaftliche Art, bei gemeinsamen Hobbys, bei Unterstützung im Alltag und Beruf, beim Sex, aber er verweigert sich bei Zärtlichkeiten, weil er vielleicht den Eindruck hat, Ihnen nicht gerecht werden zu können. Kann es sein, dass Ihre Vorwürfe ihn auch tiefer kränken, als er es offen anspricht? Immerhin steht er als lieblos und hartherzig da, weil Sie das implizieren. Und Sie sehen sich als maximal zärtlich und einfühlsam. Aber können Sie sich auch in sein Bedürfnis nach Distanz einfühlen?
Mein Vorschlag wäre es, dass Sie dieses Problem erst einmal so akzeptieren, wie es ist.
Ich habe den Eindruck, dass Ihre Beziehung sehr viele gute Seiten hat und in vieler Hinsicht eine außergewöhnliche und stabile Beziehung ist. Deshalb würde ich Ihnen raten, daran zu arbeiten, dass Sie Ihren Wunsch (oder Ihre Forderung?) nach Nähe etwas loslassen oder besser noch sich selbst darum kümmern können.
Gerade das wird es Ihrem Mann viel leichter machen, auf Sie zuzukommen.
Es ist ein bisschen so wie mit Katzen. Meine Katze kommt am liebsten zu mir, wenn ich gerade zufrieden am Computer oder am Klavier sitze und nichts von ihr will. Wenn ich sie anlocken will, weil ich schmusen will, zeigt sie mir die kalte Schulter und ignoriert mich. Typisch Katze, aber das Prinzip gilt auch für Partnerschaften.
Können Sie sich vorstellen, sich selbst darum zu kümmern, dass Sie Ihr nähebedürftiges und nach Zuneigung durstendes inneres Kind selbst versorgen? Wissen Sie, warum Ihr inneres Kind dieses hohe Bedürfnis nach Nähe hat? Wie war es in Ihrer Kindheit um Zärtlichkeiten bestellt?
Wie wäre es, wenn Sie Seminare zum Thema "Selbstfürsorge und Dialog mit dem inneren Kind" besuchen würden und versuchen, sich selbst mit "Wasser" (sprich Nähe und Zuneigung) zu versorgen?
Ich hoffe, dass Sie Ihr inneres Kind besser versorgen lernen und wünsche Ihnen dann eine entspanntere und befriedigendere Partnerschaft!
Herzliche Grüße
Julia Peirano