BILDUNG Fördern oder aussortieren?

Die Debatte um das Sitzenbleiben rührt an der Basis des Schulsystems. Die Lehrergewerkschaft plädiert für das schwedische Modell: das Sitzenbleiben abschaffen.

Die Debatte um das Sitzenbleiben rührt an der Basis des Schulsystems. Die Lehrergewerkschaft plädiert für das schwedische Modell: das Sitzenbleiben abschaffen.

Etwa ein Viertel der 15-jährigen Schüler in Deutschland hat laut der PISA-Studie schon mal eine Klasse wiederholt. Als erste Kultusministerin sprach sich jetzt die niedersächsische SPD-Politikerin Renate Jürgens-Pieper für die Abschaffung des Sitzenbleibens aus - eine Forderung, die die Grundfesten des deutschen Schulwesen erschüttert. In Schweden wird bereits weitgehend auf die Selektion von Schülern verzichtet - mit Erfolg, wie die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) betont.

»Wir müssen unser Schulsystem umkrempeln«, fordert Marianne Demmer, Schulexpertin bei der GEW. Grundsätzlich müsse man weg von der festgefahrenen Meinung, dass das Aussortieren von Schülern mit schlechten Noten die beste Grundlage sei. »Sitzenbleiben ist eine brutale und unangemessene Methode, um auf Leistungsdefizite bei Schülern hinzuweisen«, erklärt sie.

Vergangene Woche besuchte eine GEW-Delegation Schweden, um sich ein Bild von dem dortigen System zu machen. »Wir waren sehr beeindruckt, wie eigenständig die Schüler dort gearbeitet haben«, sagte Demmer. Der traditionelle Unterricht gehe in Schweden nie über den gesamten Tag, immer wieder gebe es ausgedehnte Phasen, in denen die Schüler selbstständig arbeiteten. »In dieser Zeit können sich die Lehrer dann besonders um die schwächeren Schüler kümmern«, erklärt Demmer.

Bis zum Ende der neunten Klasse besuchen in Schweden alle Schüler eines Jahrgangs dieselbe Schule. Bis zur achten Klasse werden keine Noten vergeben, so dass auch ein Sitzenbleiben nicht möglich ist. Trotzdem gibt es unterschiedliche Lernniveaus pro Klasse, so dass jeder Schüler seinem Leistungsstand angemessen gefördert werden kann. Sorgen der deutschen Kritiker, dass mit der Abschaffung der Ehrenrunden auch der Leistungsgedanke auf der Strecke bleibe, widerlegt Demmer mit dem Verweis auf Schweden: »Dort glaubt niemand, dass die Schüler ohne die Drohung des Sitzenbleibens nichts mehr lernen.«

Auch das Argument, Wiederholer könnten ihre breiten Wissenslücken kostenlos und ohne Nachhilfe schließen, geht für die GEW an der Sache vorbei. Demmer verweist auf PISA-Forscher Klaus-Jürgen Tillmann, demzufolge Studien seit den 70er Jahren belegen, dass das Sitzenbleiben mehrheitlich nichts nutze. Zum einen müsse der Schüler den Stoff sämtlicher Fächer wiederholen, obwohl er oft nur in wenigen wirkliche Probleme habe. Zum anderen könne das Problem der Überalterung soziale Schwierigkeiten in den Klassen erzeugen, sagt Tillman.

Ganztagsschule als ideale Lösung

Nach dem verheerenden Abschneiden der deutschen Schüler in der PISA-Studie hatte sich Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn für die Einführung der Ganztagsschule in Deutschland ausgesprochen. Auch Demmer hält die Ganztagsschule für sinnvoller - vor allem, wenn das Sitzenbleiben abgeschafft werde. Außerdem müsste der Lehrstoff nicht mehr gedrängt am Vormittag vermittelt werden, was aus lernpsychologischer Sicht eh nicht sinnvoll erscheine.

Die zusätzlichen Kosten könnten zumindest teilweise durch die Abschaffung der Ehrenrunden refinanziert werden. Die GEW hatte bereits vor einiger Zeit darauf hingewiesen, dass bei den jährlichen Durchschnittskosten für einen Schüler, die laut Statistischem Bundesamt bei 8.700 Mark lägen, für Sitzenbleiber 2,3 Milliarden Mark aufgebracht werden müssten. Wenn das Geld in spezielle Lernförderung in kleinen Klassen investiert würde, könnte sich das Wiederholen einer Klasse erübrigen.

Stephan Köhnlein, AP

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