An einem schönen Tag im Sommer betritt ein agiler Herr eine kleine Bäckerei, blättert 300 Euro auf den Tresen und sagt: "Ich will mein Brot bezahlen." Es geschieht nicht allzu oft, dass Einzelkunden so hohe Beträge für ihr Brot in bar hinlegen. Aber hier kommt Herr Hasenjäger – so heißt der Kunde – auch deshalb ganz persönlich, weil ihm alles an der Bäckerei Erbel ein Genuss ist: der Duft, der Anblick der warmen Laibe in den hölzernen Regalen, die Stimmung unter den feinschichtig bemehlten Bäckern. Auch wenn er dazu aus Florida anreisen muss, was von Dachsbach im Fränkischen doch recht weit entfernt ist. Ihn wärmt das Wissen, dass hier alles so verläuft, wie es nach bester Tradition zu sein hat. Er schätzt die reinen Zutaten, das saubere Handwerk.
"Ich kenne nichts Besseres", sagt der Herr aus Amerika, der sich quartalsweise hünenhafte Laibe schicken lässt, tiefbraun, schwer, dicht und neben Roggen und Sauerteig nach Anis und Koriander duftend. Herr Hasenjäger vierteilt die Brote, hüllt sie ein und bettet sie in die Tiefkühltruhe, von wo er sie nach und nach hervorholt, auftaut und mit Butter und Befriedigung verspeist. "Es gibt ja nur noch so wenige von der Industrie unberührte Lebensmittel. Dass Erbels Brot dazugehört, habe ich gleich erkannt." Er aß es bei einer Kur in Bad Mergentheim und war überwältigt.
Mehl, Wasser, Salz, Sauerteig und Hefe
Was macht das Erbel-Brot so besonders? Vielleicht, dass ihm nichts zugesetzt ist. Jeden der Inhaltsstoffe hätte auch Hasenjägers Großmutter schon gekannt. Mehl, Wasser, Salz, Sauerteig und Hefe – die Brote unterscheiden sich charakterlich nur dadurch, dass Bäcker Erbel die Zutaten stets anders gewichtet und verschieden backt. Vor allem aber arbeitet er mit einer Zutat, die rar geworden ist – mit viel Zeit.
Bäcker oder Discounter – welches Brot besser schmeckt

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In den Bottichen, Kummen und Zubern der Backstube atmet es und stöhnt, amorphe Massen schnaufen und heben sich, sie werfen Blasen, platzen und fallen seufzend in sich zusammen. Die Teige allesamt – sie leben! Es sind komplexe, myriadenfach mikrobiell durchtriebene Wesen, die über den Verlauf mehrerer Tage werden, wachsen und gedeihen und dabei ganz von allein Geschmack entwickeln; Lebewesen, die bleich und weich in die Glut fahren, sterben und als goldbraun-feste, krustigkrosse Brote auferstehen, mit schnittfester Krume, Röst- und Karamellnoten sowie dem Duft von Scholle und Scheune – jedes eine Köstlichkeit! Lebendig nicht mehr, dafür jetzt ein Lebensmittel.
Unser täglich Brot, es gilt als einzigartig. Bei Brot sind wir Weltmeister, die deutsche Brotkultur ist immaterielles Weltkulturerbe, anerkannt von der Unesco. Doch wankt der Mythos. Den traditionellen Zutaten können 200 Zusatzstoffe beigemengt werden, das Kulturerbe ist hochindustrialisiert, die Handwerkskunst geht verloren.

Darüber hinaus ist das Brot in den Verdacht geraten, fett und krank zu machen. Die Supermarktregale sind voller Backwaren, die glutenfrei, also frei von Weizeneiweiß zu sein versprechen. Ausgerechnet dem Kult- und Kulturgetreide wird misstraut, um dessen Pflege sich der Mensch seit zehntausend Jahren am meisten bemüht hat. Vielen scheint es ein Gefahrgut. Was ist nur los mit unserem Brot?
Am Wasserloch der Supermärkte
Weil Deutschland bis zu Napoleon ein kleinstaaternder Flickenteppich war, weil Grenzen wehrten und Zölle hinderten, hat sich hier über die Jahrhunderte eine einzigartige, fast insulare Brotwelt entwickelt. Noch vor hundert Jahren war jedes Mehl regional anders, war keine Mühle gleich, hatte jedes Ländchen sein eigenes Brot. Die Deutschen, sie waren Eigenbrötler.
Bäckermeister Arnd Erbel ist dies immer noch – und ein fast kauziger Enthusiast dazu. Er hat sein Handwerk in Wien gelernt, und er lernt noch heute immerfort. Zum Einbacken eines neuen Steinofens etwa trifft er sich in den schottischen Highlands mit Gleichgesinnten.
Kettenbäcker, die auf Masse machen, legen ihre Verkaufsstellen in die Eingangsbereiche der Supermärkte, wohin der bequeme Verbraucher zum Powershoppen kommt. Sie wissen: Bequemlichkeit schlägt Qualität. Die Kettenbäcker liegen dort wie Krokodile am Wasserloch. Erbel dagegen hat neben seiner Backstube in Dachsbach nur eine weitere Verkaufsstelle in der nahen Kreisstadt. Die Kunden kommen zu ihm, nicht er zu ihnen. Zusätzlich verschickt er seine Brote – nicht allein nach Florida: Zahlreiche Sterne-Restaurants beziehen ihr Brot von ihm.

Bäcker Erbel rechnet vor, welche laufenden Kosten die Kettenbäcker mit ihren vielen Verkaufsstellen haben, für den Strom der Aufbacköfen, Fuhrpark, Löhne und Kredite. Und doch darf deren Brot nicht mehr kosten als bei den Preisvorgebern Lidl oder Aldi, weil es sonst keiner kauft.
"Ich habe all diese Kosten nicht", sagt Erbel, "stattdessen kann ich in gute Grundzutaten investieren." Die Hälfte seines Mehls ist aus eigens für ihn angebautem Getreide, das er selbst mahlt. Seine Bezugsquellenordner sind so dick wie das Berliner Telefonbuch. Von hier hat er die Butter, von dort die Gewürze, von da die Sahne. Weil er sich frei von allen und allem fühlt, nennt er sich "Freibäcker". Vielleicht auch, weil er freihändig backt, Knetmaschinen gibt es, ja – aber das war's.
Erbels gibt es nicht mehr viele. Industriegesellschaft und moderne Logistik haben die Welt des Brots verändert. Alles ist immer verfügbar. Riesenmühlen vermahlen nun Unmengen weltweit herangeschifften Weizens zu Mehlen, die von Timmendorf bis Tuntenhausen immer gleich sind – und dies auf ausdrücklichen Wunsch der Bäcker auch sein sollen. Damit sie keine Überraschungen erleben.
Lidl ist wohl Deutschlands größter Bäcker
Ständig größere Betriebe und Backfabriken, die allenfalls noch aus der Luft zu überschauen sind, verlangen nach Rohwaren, die durch Standardisierung alle Risiken ausschließen. Damit ihre Maschinen an jedem Tag der Woche 24 Stunden hindurch backen können. Längst ist Lidl wohl Deutschlands größter Bäcker, die Fabrik bei Aachen ist so konzipiert, dass sie täglich neun Fracht-Jumbojets mit der Produktion beladen könnte. Aldis Vertragsbäcker kommen noch dazu. Die Discounter sind die großen Vereinfacher.

Den Kunden wird weiter die geschichtlich gewachsene Brotvielfalt angeboten – doch oft nur noch zum Schein. "Die deutsche Brotvielfalt wird heute nicht mit Mehl allein erzeugt", sagt Norbert Haase. Der Direktor und Professor des Bundesforschungsinstituts für Sicherheit und Qualität bei Getreide in Detmold erklärt: Schmeckte ein süddeutsches Brot früher nach Süddeutschland, weil sein Getreide auf den Böden der Region gewachsen, in den Mühlen vor Ort gemahlen und das Mehl dann in einer lokalen Backstube nach traditionellem Rezept gebacken war, so kann etwa ein fränkisches Brot heute aus Berlin kommen, aus Castrop-Rauxel oder von Usedom. "Heute gibt es zusätzlich eben Backmischungen", sagt Haase, "da ist dann Süddeutschland drin." Das Gros der Bäcker, ob klein oder groß, greift seit Jahrzehnten zu Haases "Backmischungen". Auf diese Weise entsteht nicht nur ein Vielfalts-Einerlei, es entstehen Tu-so-Brote und Schmink-Brötchen, Schauspielbackwaren, scheincharaktervoll, in Wahrheit aber ertüftelt.
Der Staat erlaubt 200 Zusatzmittel
Mal mehr, mal weniger, aber niemals für den Kunden zu erkennen sind fast alle dem Backwarendoping verfallen, sind abhängig von Quellmehlen, Quellstärken, Hydrokolloiden, Emulgatoren, Weizenkleber, Malzmehlen, Zuckerstoffen, Phosphaten, Enzymen, Ascorbin- und weiteren Säuerungsmitteln, von Milch- und Molkepulver, Cystein und anderem mehr. Eine EU-Verordnung erlaubt den Einsatz von rund 320 Lebensmittelzusatzstoffen. Etwa 200 davon werden auch in Bäckereien genutzt.
Vorher schon, in der Mühle, werden die Mehle mit Mehlbehandlungsmitteln ausgerüstet, mit Ascorbinsäure etwa, mit Natrium-L-Ascorbat, Calcium-L-Ascorbat, Lecithin, Guakernmehl, Mono- und Diglyceriden von Speisefetten und anderen vielsilbigen Substanzen, die an den Chemieunterricht erinnern.
Beim "Tag des Brotes" in Berlin, im Mai dieses Jahres, trifft man auf Mathias Warwel, den für Forschung und Entwicklung zuständigen Geschäftsführer der Ireks GmbH – eines Kulmbacher Familienunternehmens mit 265 Millionen Euro Jahresumsatz und zuletzt gut 20 Millionen Euro Gewinn. Im 19. Jahrhundert als Braumalzhersteller gestartet, bieten Firmen wie Ireks heute, so Warwel, "Kompositionen aus Lebensmitteln, die Bäckern einfach nur helfen sollen, eine gleichbleibend hohe Qualität zu liefern". Mehl, so der promovierte Chemiker, sei nun mal ein in seiner Qualität schwankendes Naturprodukt – und die Abweichungen seien für den Bäcker ein Problem. "Wir gleichen die Schwankungen aus." Auch sei Mehl an sich doch eher fade, erst die Kombination geeigneter Backzutaten mit dem darauf abgestimmten Herstellungsprozess brächten heute "Aroma, Geschmack und Frische" ans Brot.

Erst die Backmittelhersteller ermöglichten durch immer raffiniertere Beimengungen, dass ein Bäcker, der früher nur wenige eigene Produkte anbieten konnte – Weißbrot, Graubrot, Rosinenbrot, Schwarzbrot und diverse Brötchen – auf einmal tagtäglich 50 Brote auslegen kann. Der Trend zur scheinbaren Vielfalt griff so richtig in den 70er Jahren um sich – und er hörte nie wieder auf.
"Darum ist der Bäcker aber nicht weniger ein Handwerker", verteidigt Warwel seine Kundschaft, "selbst ein Bäcker, der mit Backmitteln arbeitet, muss ja immer noch einen Teig daraus machen, ihn wirken und so weiter – muss wissen, was er tut."
Nur knapp ein Prozent der deutschen Bevölkerung hat eine Zöliakie
Allenfalls Insidern ist die Laborabhängigkeit der deutschen Bäcker bekannt. "Das ist das große Geheimnis der Branche", sagt Friedrich Longin, Wissenschaftler an der Universität Hohenheim, ein Spezialist für Getreidezucht. Man begegnet ihm auf der "Getreide-Tagung" der Arbeitsgemeinschaft Getreideforschung in Detmold. Dort trifft sich alle zwei Jahre die ganze Wertschöpfungskette des Brots – Landwirte, Händler, Müller, Großbäcker. Nur die Verbraucher fehlen.
Die Tagung findet 2017 vor dem Hintergrund statt, dass eine steigende Zahl von Menschen Probleme mit Brot hat, oder besser – mit Gluten. Zwar hat nur knapp ein Prozent der deutschen Bevölkerung eine Zöliakie, zeigt also krankhafte körperliche Reaktionen gegen Gluten. Zusätzliche 13 Prozent aber beobachten bei sich eine Unverträglichkeit, eine mit Blähungen, Bauchgrimmen und Kopfschmerzen verbundene Reaktion auf Weizenprodukte.
In Detmold ist das jedoch kein großes Thema. Allenfalls vor der Saaltür, in den Kaffeepausen, fällt die Formulierung des "wenn überhaupt ...", wird die Möglichkeit erwogen, dass vielleicht doch was dran ist an den Klagen derer, die Weizen nicht mehr vertragen.

Wenn überhaupt, so die einen, dann liege die Verantwortung bei den Züchtern, die seit Ende des Zweiten Weltkriegs neue, eiweißreiche Weizensorten aus Amerika einkreuzten, weil der alte europäische Weizen als schlecht verbackbar galt. DDR-Bürgern fiel das auf, als sie 1989 ihre soliden Ostmehlbrötchen mit den plusterigen Westmehlbrötchen vergleichen konnten.
Wenn überhaupt, so die anderen, dann sei es die Schuld der Müller, deren immer potentere Mahlwerke dem Weizen so zusetzen, dass ihm jene synthetischen Mittel beigemengt werden müssen, die das Mehl erst zu verarbeiten erlauben.
"Tag des Brotes"
"Kann ja sein", sagt schließlich Friedrich Longin, "dass auch Weizeninhaltsstoffe krank machen. Aber man sollte die 200 zugelassenen Zusatzstoffe genauso unter die Lupe nehmen. Und nicht nur einzeln, sondern auch deren Kombinationswirkungen. Die untersucht die Branche bisher nicht."
Was fleißig beschwiegen wird. Auch von jenen, denen man am meisten vertrauen möchte, den Bäckern an der Ecke. "Mehl, Wasser, Salz und Hefe: Um ein sehr gutes, charaktervolles Brot zu backen, benötigt der Bäcker nur wenige Zutaten – handwerkliches Geschick dafür umso mehr." So feierte der Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks beim diesjährigen Bäckertag seine Produkte. Doch von Ausnahmebäckern abgesehen sind die "wenigen Zutaten" der Festtagslyrik Geschichte.
Beim "Tag des Brotes" steht Zentralverbandspräsident Michael Wippler auf der Bühne, ein Sachse und Deutschlands erster Bäcker. Er hat die Versammlung per Film einschwören lassen auf den Kampf gegen den Feind. Der Streifen sagt: Früher gab es Bäcker an jeder Ecke, die größte Konkurrenz des Bäckers war der Bäcker. Heute gibt es Aldi und Lidl, Selbstbedienungsläden wie Backwerk, Back-Factory und die Tankstellenkette Aral. Sie alle sind laut und sichtbar. Schließlich fragt der Film: "Und was machen wir?"

Die Bäcker greifen nicht zu den Backmitteln, weil sie böse sind. Und keinesfalls ist es auch so, dass der Einsatz der Mittel mit der Größe des Betriebs steigt. Vielmehr glauben gerade viele kleine Bäcker, kaum noch anders zu können, als zu Backmitteln zu greifen. Nur so können sie – bei gleicher Backstubengröße und Mitarbeiterzahl – ein attraktives Angebot ausbreiten.
Manchmal reichen 30 Gramm eines Mittelchens aufs Kilo Mehl, um einen bestimmten Charakter zu erzeugen. Manchmal muss es der "Hundertprozenter" sein, da ist dann schon alles fertig drin: Beutel auf, Hefe und Wasser dazu, Knethaken rein – und ab geht die Post.
"Stoffe, die Gott nicht kennt"
Die Lager der Puristen (winzig) und der Realisten (quasi alle) sind sich spinnefeind. Wissenschaftler, die den Bau und den Betrieb von Backstraßen begleiten, verweisen auf die hohe Qualität des verlässlich immer Gleichen und verachten die Produkte der Bäcker, deren Brot an jedem Tag ein anderes ist, als "Glücksbrote". Jene Bäcker dagegen, die sich um backmittelfreie Brote bemühen, sehen in den anderen "Beutelschneider" und "Teigaffen".
Es herrscht ein Verdrängungswettbewerb, bei dem der vielleicht kälteste Faktor der Kunde ist. Von Produktionsumständen und Konkurrenzdruck weiß er wenig und will davon auch meist nichts wissen, er schaut vor allem auf den Preis und kauft sein Brot mehrheitlich da, wo er mit dem Auto vorfahren kann. Im Supermarkt.
Peter Görtz ist ein Bäcker, der beide Seiten kennt. Als er und sein Bruder die Vorstadtbäckerei des Vaters übernahmen, hatte sie arg zu kämpfen. Heute produziert Görtz seine Backwaren an einem neuen Standort in Ludwigshafen. Der Einzugsbereich seiner 156 Filialen am nördlichen Oberrhein deckt ein Gebiet vom Ausmaß des Großherzogtums Luxemburg ab. Seine edelstählernen Anlagen und elektrischen Öfen produzieren rund um die Uhr, seine lichtwarmen Verkaufsräume mit der Anmutung von Stein, Holz und Glas sind stets voll. "Es geht nur über Größe", sagt der Mann, der sich bei aller auf Wachstum gerichteten Dynamik ganz klar als Handwerksbäcker sieht und von der Industrie abgrenzt. Seine Brote seien backmittelfrei, versichert er, nur bei den Brötchen, da "geht es nicht ohne".
Für ihn ist die Frage nach dem Backmitteleinsatz auch sekundär. "Wichtig ist allein, ob man in der Nacht ein Brot für den Morgen backt oder ob man es als Regalware für irgendwann produziert. Wenn ich für irgendwann produziere, muss ich das Brot verpacken, damit es nicht austrocknet, muss ich es umgasen und ihm Stoffe zufügen, die Gott nicht kennt – alles, um ein Austrocknen oder Schimmeln zu verhindern."
Dabei liege das Vermögen, Brot natürlich haltbar zu machen, nicht zwingend im Zusatz von Mittelchen, sondern in Einräumen von Zeit. "Je mehr Zeit ich der Mehlstärke gebe, Wasser aufzunehmen, desto mehr Zeit hat sie, die Feuchtigkeit später wieder abzugeben und das Brot frisch zu halten. Dann muss ich es nicht artifiziell behandeln." Zeit und Aufwand, so Görtz, seien für die Industrie aber zu groß, wie er am Beispiel des Brötchens erklärt: "Die Industrie muss sofort backen, dafür aber nur halb – sie gibt das Halbprodukt in die Tiefkühlung. Später muss es nach dem Transport an der Verkaufsstelle ein zweites Mal aufgebacken werden."
Die Enzyme liefern Chemiekonzerne
Unter dem Einfluss der Schockfrostung und ohne Zeit können die mehleigenen, natürlichen Enzyme ihre Arbeit aber nicht leisten, die darin besteht, die komplexneutrale Mehlstärke in süßliche Einfachzucker abzubauen. Enthält der Teig hinreichend davon, bräunt das Brot beim Backen ganz von allein. "Können die Enzyme aber nicht wirken", so Görtz, "dann färbt man eben oder zuckert zu." Darüber hinaus kämen gesondert zugesetzte, synthetisch erzeugte Enzyme ins Spiel, die das künstliche Wachkoma der Tiefkühlbrötchen überlebten und wie eine Zeitschaltuhr erlauben, das Brötchen zu Ende zu backen.
Nur durch die Beimischung von Backmitteln kann dabei der Eindruck erzeugt werden, es handele sich um ganz normale Brötchen. Und – das ist die Ironie – in gewisser Weise ist das synthetisch gedopte Brötchen ja bereits normal.
Backmittel, der Begriff klingt auf Deutsch so neutral. Auf Englisch heißen sie "bread improvers" – Brotverbesserer, was ihre Funktion schon klarer macht. Im Backzutatenverband sind allein schon 40 backmittelherstellende Betriebe aus Deutschland zusammengeschlossen. Firmen wie Ireks, Down Foods, Hemelter Mühle oder Jung Zeelandia, viele längst in Hand grenzüberschreitender Konzerne, halten den deutschen Brot- und Brötchenmarkt am Leben. Vertrieben werden ihre Produkte meist von der Bäko Marken und Service eG, dem von den Bäckereien selbst genossenschaftlich organisierten Fachgroßhandel. "Die Bäko liefert viele Zutaten für das Tagesgeschäft der Bäckereien rasch und zuverlässig", beschreibt Haase die logistische Durchschlagskraft diplomatisch. "Ein Anruf, und die Lieferung kommt prompt."
Der Produktkatalog der Backmittelfirma Jung Zeelandia zum Beispiel (Eigenwerbung: "Mehr Möglichkeiten – ideenreich backen – erfolgreich verkaufen") umfasst 55 Seiten. Was dort aufgelistet steht, ist heimlich in aller Munde. "Jung opti-time Gold MXI, das Brötchenbackmittel für Gärunterbrechung, Gärverzögerung und Langzeitführung – abgestimmt auf Ladenbackprozesse." Oder: "Jung Optimalz PLUS, das Brötchenbackmittel auf klassischer Malz-Lecithin-Basis für kühl gelagerte Teiglinge und Gärunterbrechung".
Folgt man dem Katalog, hat der Bäcker gut 30 Möglichkeiten, sein Brötchen aufzuhübschen. Um die Vorzüge der Tütenware zu erklären, beschäftigt die Firma Jung Zeelandia 30 Außendienstmitarbeiter für Groß- und Industriebetriebe und weitere 48 für Handwerksbetriebe sowie sechs für den Verkaufsservice. Diese Leute fungieren wie Pharmavertreter, die Ärzte zu Medikamenten raten. Eine schriftlich gestellte Interviewanfrage des stern beantwortet das Unternehmen übrigens nicht.
"Powered by Jung Zeelandia"
Der Kunde ist bei alldem von der Politik alleingelassen. Keinerlei Gesetz verpflichtet die Bäcker, die Treibstoffmischungen in ihren Brötchen und Broten wirklich publik zu machen. Niemand muss sich "Powered by Jung Zeelandia" an das Bäckereifenster schreiben.
Immerhin sind die 200 zugelassenen Backmittel deklarationspflichtig. Auf Nachfrage kann man bei der Verkäuferin Einsicht in das Büchlein erbitten, wo dann steht, was etwa in diesem Bäckerbrötchen vom Niederrhein enthalten ist: "Weizenmehl, Wasser, Backmittel (Gerstenmalzextrakt getrocknet), Stabilisator (Carboxymethylcellulose, Natriumcarboxymethylcellulose), Zucker, Glukose aus Mais, Weizen, Emulgator (Mono- und Diacetylweinsäureester von Mono- und Diglyceriden, von Speisefettsäuren aus Raps), Sojamehl, Malzmehl aus Gerste, Weizen geröstet, Hartweizengrieß, Pflanzenöl aus Raps, Enzyme, Roggenmehl, Hefe, Speisesalz".
Die Traditionszutaten Mehl, Wasser, Triebmittel und Salz sind hier vor lauter Zusatzstoffen kaum mehr erkennbar. Hier tauchen ganz offen auch "Enzyme" auf – nur welche das sind und wie viele, das weiß wahrscheinlich nicht einmal der Backmittelhersteller, denn er produziert sie nicht, sondern kauft die Enzyme seinerseits zu, angemischt von Spezialfirmen wie Evonik, Bayer, Dupont, Novozymes oder der Mühlenchemie bei Hamburg.
Eigentlich sind Enzyme Bioaktivstoffe der Natur aus dem Bereich der Proteine, sie kommen in allem vor, was Leben hat. Katalytisch wirkend, sind sie selbst in kleinster Menge hochwirksam. Allein ihre Anwesenheit genügt, damit etwas passiert – so wie Eisen rostet, weil die umgebende Luft Feuchtigkeit enthält, ohne dass die Oxidation das Wasser in Menge oder Qualität wesentlich verändert. Die Enzyme sind einfach nur da, aber ohne sie wäre das Gehen und Gären des Teigs nicht möglich.
Allerdings waren es früher ausschließlich die getreideeigenen, von der Natur mitgegebenen Enzyme, die bei der Gärung wirkten. Heute haben Wissenschaftler den Bauplan der Enzyme geknackt. Sie werden nun in immer neuen Formen in Labors gezüchtet und menschlichen Nahrungsmitteln wie Werkzeuge zugefügt.
"Wenn der Teig kleben würde, das wäre das Ende"
Norbert Haase nennt es "eine Glaubensfrage": "Ist die Zugabe von Enzymen nun gut, oder ist sie doch Teufelszeug?" Allenfalls bei der Herstellung in der biotechnologischen Anlage könnten "konzentrierte Enzymstäube Krankheiten auslösen", beim Bäcker aber nicht.
Obwohl schockpotent, darf der Einsatz dieser Proteine mit gesetzlicher Erlaubnis verschwiegen werden. Dabei sind es Proteine, gegen die viele Menschen allergisch reagieren. Lobbygruppen haben aber durchsetzen können, dass sie als inaktiv gelten und ungenannt bleiben, sobald sie die Hitze des Backprozesses durchlaufen haben und dann als tot gelten. Es wird am Ende so getan, als hätte es sie nie gegeben.
"Das ist eine Hintertür", sagt Karl-Dietmar Plentz, Bäckermeister aus Schwante nördlich von Berlin. So könnten Stoffe ins Brot gelangen, ohne deklariert werden zu müssen. Als einer der besten Bäcker Brandenburgs darf Plentz beim "Tag des Brotes" schaubacken. In fünfter Generation müht er sich redlich, seine Erzeugnisse mindestens zur Hälfte backmittelfrei zu halten. Plentz würde sich am liebsten ganz auf sich selbst verlassen. Nur wie das gehen soll, weiß er nicht. Die grundlegendsten Rohstoffe nämlich, die Mehle, sind schon von der Mühle "enzymatisch vorbehandelt".
Glaubt man den Technikern der Branche, müssen Mehlbehandlungsmittel, Backmittel und Enzyme allein schon darum sein, weil sie den Prozess des Backens auf computergesteuerten Backstraßen möglich machen. Ohne behandelte Mehle keine Megaproduktion. Erst sie machen den Teig maschinengängig, führen ihn zu Stabilität und Elastizität hin, auf dass Maschinen ihn packen können, ohne zu verkleben und Millionenausfälle zu bewirken. "Wenn der Teig kleben würde, das wäre das Ende", urteilt Norbert Haase.
Solche Angst braucht der Bäcker Jochen Gaues nicht zu haben – der Mann arbeitet mit der Hand. Allerdings fürchtete er wohl einmal, zu verhungern. Als er vor ein paar Jahren zwischenzeitlich mal pleite war, seine Backstube bei Hannover versiegelt und der Ofen aus, sagte Gaues zu seiner Gattin: "Wir haben kein Brot mehr, was sollen wir jetzt essen?" Nun ist es nicht so, dass es im Raum Hannover nicht noch andere Bäckereien gäbe. "Aber die backen kein Brot, das ich essen kann", sagt Gaues, der unter Kollegen nicht allzu viele Freunde hat. "Was die Brot nennen, ist bei zu geringer Hitze viel zu lang im Ofen gewesen. Es ist trocken. Geschmack hat's auch keinen." Und oft, sagt Gaues wenig überraschend, seien Backmittel drin. Welche? "Weißte nie, so Pulver halt."
Gutes Brot darf nicht allein Geschmackssache sein
Drei Monate hatte der Bäcker damals hitzefrei. Dann kam ein Milliardär daher, vor Gaues' Pleite ein Stammkunde. Der fand ebenfalls nirgendwo sonst die Qualität, die er gewohnt war. Er kaufte Gaues eine neue Bäckerei, setzte den Meister wieder ein und stellte ihm eine Geschäftsführerin zur Seite. Seitdem bullert der Ofen wieder. Unlängst buk Gaues auf der MS "Europa" neben Sterne-Köchen als "einer der renommiertesten Bäcker Europas". Ein Glücksfall.
Warum eigentlich helfen die Bäcker sich nicht selbst? Warum gibt es nicht längst den VPB, den Verband der Prädikatsbäcker? Nach dem Beispiel des Verbands der Deutschen Prädikatsweingüter, die weltweit wieder gute Preise und hohes Ansehen für deutschen Wein erzielen, könnte es doch auch einen Klub der Sauberbäcker geben.
Der Präsident des existierenden Verbands steht beim "Tag des Brotes" auf der Bühne, und auf die Frage der Moderatorin, was eigentlich gutes Brot ausmache, was antwortet er? "Das ist Geschmackssache."
Das ist schlapp. Gutes Brot darf nicht allein Geschmackssache sein. Sondern eine Sache der Reinheit. Und der Ehre.
