Fast wären die Briten zur Kaffeenation geworden. Der Sieg des Mokkasuds im Pappbecher stand knapp bevor - mit Starbucks-Filialen und anderen Franchise-Ketten an allen Ecken und keinem Teehaus weit und breit.
Das konnten die Teetrinker von der Insel natürlich nicht auf sich sitzen lassen (die Teeproduzenten erst recht nicht) - in einem Land, in dem immer noch täglich 196 Millionen Tassen Tee getrunken werden, meist zu Hause und aufgebrüht aus billigen Teebeuteln. Doch die Tendenz sinkt. Folglich musste eine neue Strategie her, und so wurde die Renaissance einer urbritischen Institution ausgerufen: der des Afternoon-Tea, des Fünf-Uhr-Tees. Während der Kaffee im Stehen und - to go - Gehen aus Wegwerfbechern geschlürft wird, lassen sich die Fünf-Uhr-Tee-Liebhaber entspannt in die Chintz-bespannten Sessel der großen Hotelhallen nieder. Muss sich der Kaffeetrinker seinen Latte macchiato, zwischen Wifi-Laptop-Jünger und Zeitungsraschler geklemmt, selbst am Tresen erstreiten, wird der Tee dem Gast in feinem Porzellanservice am Tisch zierlich eingeschenkt - zu Klavierklängen, versteht sich. Yes, Madam, Tee wird in England wieder mit Luxus verbunden. Was ein hoffnungsfrohes Zeichen ist, denn der Niedergang der insularen Teekultur begann mit der Einführung der Billigteebeutel, die meist mit Fannings gefüllt sind, dem staubfeinen Bodensatz der Teeproduktion. Fannings färben das Wasser schnell und vermitteln einen starken Geschmack, haben aber im Übrigen wenig gemein mit den mehr als 10 000 Teesorten, die in 35 Staaten rund um die Welt angebaut werden.
Der Top London Afternoon Tea Award ist ein Prestigeobjekt
der Luxushotels geworden. Es war zunächst eine Marketingidee des britischen Teeproduzentenverbandes, des Tea-Councils, die dem Tee wieder den Glanz des Besonderen verliehen hat. Jedes Jahr prämiert der Verband den besten Fünf-Uhr-Tee - der "Top London Afternoon Tea Award" ist zum Prestigeobjekt der Luxushotels geworden. "Das Niveau ist inzwischen so hoch, dass feinste Kleinigkeiten über den Gewinner entscheiden", sagt die Juryvorsitzende Irene Gorman. "Es kann das freundliche Personal sein oder die bessere Beschreibung der Teesorten auf der Speisekarte." Mehr als 2000 Mitglieder inselweit begehren die Auszeichnung, und die Gewinner verweisen oft auf langjährige Tradition beim Ausrichten des Teekränzchens.
Die siebte Gräfin von Bedford, Anna Maria mit Namen, soll um 1840 die Erste gewesen sein, die einen Afternoon ohne Tee für einen verschwendeten hielt. Damals wurde zwischen einem frühen Frühstück und einem späten Dinner allenfalls mittags ein leichter Imbiss zu sich genommen. Die Gräfin schob aber gegen 16 Uhr einen Riesenkohldampf und entschied eines Tages gegen allen Usus, die Küche anzubimmeln, um Tee, Kuchen und Brote aufs Zimmer zu verlangen. Ihre Freundinnen waren von dieser Idee begeistert. Die Institution war geboren.
In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts fand der Afternoon-Tea Eingang in die Rezept- und Benimmbücher - mit Regeln zum lautlosen Führen des Zuckerlöffels und zum Verzehr von Gurkensandwiches mit behandschuhten Fingern. Der eher leichte Fünf-Uhr-Tee war eine Angelegenheit der oberen Klassen, ganz im Gegensatz zum herzhaften "High Tea" in Englands Norden, der am Abend serviert wurde, vor allem aus Wurst- und Fleischgerichten bestand und von einem starken Tee begleitet wurde, der ohne Milch und Zucker nicht zu trinken war. Das dunkelbraune Arbeitergetränk ist inzwischen bei Teeliebhabern verpönt - nur der Oberklassen- Tee ist wieder in. Wobei die Briten endlich entdecken, dass sie als Teenation eigentlich sehr wenig über Tee wissen. Grüner Tee, vor allem in China produziert, war in England bislang nur wenigen Kennern ein Begriff. Jetzt gilt dieser Tee aus nichtoxidierten Blättern als Gesundheitswunder und ist in jedem Supermarkt erhältlich. Jane Pettigrew lehrt die Briten als Tee-Expertin und Autorin mehrerer Tee- Ratgeber, dass das Trinken des Suds der Pflanze Camellia sinensis eine Wissenschaft für sich ist. "Die Situation heute ist vergleichbar mit der Zeit um 1950, als viele Weinhersteller begannen, endlich nicht mehr nur die Rebsorten auf die Flaschenetiketten zu schreiben, sondern auch für Laien verständlich zu erklären", sagt Pettigrew. Fast jeder wisse heute, wie ein fruchtiger Wein schmecken sollte, welche Rebsorte er bevorzugt und welche Sorte zu Fisch passt. "Aber dass Earl Grey besonders gut zu Käsesandwiches passt und Lapsang Souchong zu geräuchertem Lachs, weiß kaum jemand."
Jeder hat Tee sein eigenes Aroma, jedes Anbaugebiet seine eigene Note
Vor 20 Jahren begann sich Pettigrew von der Sprachlehrerin zur Teekennerin umzuschulen. Ihr Geheimnis: probieren, probieren, probieren. Wie Wein hat jeder Tee sein eigenes Aroma, jedes Anbaugebiet seine eigene Note. Hoch in den Bergen wachsen die Sträucher langsamer, und ihre Blätter sind deshalb aromatischer als solche aus dem Flachland. Ein schwarzer Ceylon aus dem Hügelland Ura in Sri Lanka schmeckt in einem besonders windigen Jahr, in dem das Salz des Meeres auf die Hügel hinaufgetragen wird, anders als in Jahren mit viel Regen. Und wie bei Wein gibt es auch bei Tee Saisonprodukte: Die Frühjahrsernte des Darjeeling, der sogenannte First Flush, besteht nur aus den ersten, frischen Blattspitzen der Teesträucher nach der Winterpause. Pettigrew lehrt Kellner, die den Fünf-Uhr- Tee pflegen wollen, auch das richtige Servieren und Aufbrühen. Grüner Tee darf auf gar keinen Fall mit kochendem Wasser überschüttet werden: Das würde die feinen Blätter verbrühen. Die Folge wäre eine bittere Note, die den eigentlichen Geschmack zerstört: "Mit 80 Grad heißem Wasser zubereiteter grüner Tee zeigt dagegen Variationen von fruchtig-samtig bis erdig-herb."
Die Hotels reagieren auf die gestiegene Aufmerksamkeit ihrer Gäste mit ausführlichen Teekarten. Das Lanesborough in London beispielsweise beschäftigt einen eigenen Tee-Sommelier. Karl Kessab hält über 80 Sorten für seinen Fünf-Uhr-Tee bereit, darunter auch ganz besondere wie den chinesischen weißen Tee, dessen feine Knospen nur an wenigen Tagen im Frühjahr handgepflückt, getrocknet, gerollt und verpackt werden. Den Tee Silver Needle aus der chinesischen Provinz Fujian beschreibt Kessab als "zart mit der Frische der Honigmelone und der Süße einer reifen Wassermelone, ideal zum Entspannen". Für eher Abenteuerwillige hält er auch Pu-erh-Tees aus China bereit, die jahrelang reifen, bevor sie trinkfertig sind. Der älteste Tee auf seiner Karte ist aus dem Jahr 1990, hat "einen konzentrierten, samtig- weichen Geschmack" - und soll gegen hohe Cholesterinwerte wirken.
Adressen
Weg mit den Beuteln, her mit dem guten Tee
Wo lernt der Brite, dass Tee kein braunes Wasser aus Aufgusssäckchen ist? In seinen feinen Hotels, von denen es in London nicht wenige gibt, etwa diese:
Die meisten Luxushotels in der Hauptstadt servieren Afternoon-Tea, doch empfiehlt es sich, etwa einen Monat im Voraus zu buchen.
Alle Adressen und Telefonnummern finden Sie auf der Webseite des britischen Tea-Councils www.tea.co.uk (unter "Tea Guild" und "Top Tea Places").
- Die Auszeichnung "Top London Afternoon Tea Award" hält gegenwärtig das Hotel Dorchester,
www.dorchesterhotel.com, in der Park Lane, Mayfair, London W1K 1QA, Tel.: 0044/20/76 29 88 88.
Ein Fünf-Uhr-Tee im Dorchester kostet pro Person 29,50 Pfund; für diesen Preis gibt es eine Auswahl aus 24 Sorten Tee in drei Gängen, begleitet von Sandwiches, warmen Scones mit halb flüssiger Sahne und selbst gemachter Marmelade, dazu noch eine Patisserie-Auswahl. Teurere Varianten des Afternoon-Tea beinhalten ein Glas Champagner.
Nominiert wurden ferner die Teestunden folgender Hotels: Lanesborough, Four Seasons, Ritz und Claridge’s. Das Hotel Lanesborough beschäftigt mit Karl Kessab einen eigenen Tee-Sommelier, der jeden Gast zuvorkommend bei der Auswahl seiner mehr als 80 Teesorten berät.
- Die Tee-Expertin Jane Pettigrew gibt regelmäßig Tee-Meisterklassen in London,
Informationen finden Sie unter www.tea.co.uk oder sind per E-Mail zu erfragen unter jane.pettigrew@btinternet.com.
Pettigrews Kurse dauern einen ganzen Tag, sie beinhalten Mittagessen, den Fünf-Uhr-Tee und viele, viele Proben Tee und kosten 165 Pfund pro Teilnehmer. Zu empfehlen ist Jane Pettigrews auch auf Deutsch erschienenes Buch "Tee" (Taschen Verlag, 1998), das alles Wissenswerte über Tee enthält - von seinem Ursprung in China, seiner Verbreitung bis zur korrekten Zubereitung mit den richtigen Wassertemperaturen für jede Teesorte.
Deutsche Webseite zu Tee: www.teesorten.de"
"Tee ist persönlich"
"Tee ist persönlich", sagt Pettigrew. Sie bringt den Kellnern bei, wie sie herausfinden, wer ein Earl-Grey-Typ ist und wer Jasmin-Tee-Fan. "Ein guter Kellner fragt nach - mögen die Gäste strengen oder leichten Geschmack? Wollen sie entspannen oder sich erfrischen?" Das Geheimnis eines perfekten Afternoon-Tea liegt im Vermögen des Personals, das Gefühl von Sorgfalt und Achtsamkeit zu vermitteln, sagt Pettigrew: "Tee braucht Zeit, das ist der Luxus!" Zeit und Präzision, um genauer zu sein - schwarzer Tee sollte drei bis vier Minuten ziehen, viele Grünteesorten fünf Minuten, japanischer grüner Tee jedoch nur knapp zwei. Ein perfekter Tee wird stets in feinwandige Porzellankännchen umgefüllt serviert. Es dürfen keine Teeblätter mehr in ihm schwimmen - damit die erste Tasse so schmeckt wie die letzte.
Ein klassischer Afternoon-Tea ist eine Mahlzeit aus mindestens drei Gängen, zu denen drei verschiedene Tees serviert werden sollten. Im ersten Gang begleitet ein kräftiger Tee wie der malzig-schwere Assam die Gurken-, Ei- und Schinkensandwiches. Das Londoner Claridge’s-Hotel beschäftigt einen eigenen Koch, der am Tag 300 der kleinen dreieckigen, belegten Brote herstellt, ohne Kruste natürlich, der den Eiaufstrich rührt und den Schinken selbst räuchert. Der zweite Gang ist wohl der urenglischste und besteht aus warmen Scones, gehaltvollen Teigteilchen mit Rosinen oder Apfelstückchen, die mit süßem Rahm, Konfitüre und Marmelade gegessen werden. Hierzu empfiehlt Jane Pettigrew Darjeeling-Tee, ohne Milch - um den "feinen Geschmack grünen Muskatellers" nicht zu stören.
Der dritte Gang dient als süßer Abschluss, im Claridge’s sind dies beispielsweise Blätterteigtaschen mit von Blattgold überzogenen Pfirsichen, Orangen-Schoko- Törtchen sowie Champagnergelee mit Pistazienplätzchen, dazu empfiehlt Teekellner Dominique einen grünen Tee mit feinen Zitrusnoten. Im Hintergrund spielt ein Pianist verhalten Mozart-Sonaten, die Gespräche an den Tischen sind gedämpft. Es ist ein bisschen wie die Flucht in eine andere Zeit, dieser Fünf-Uhr-Tee. Das Hotel Ritz duldet Jeans und Sportschuhe zum Tee durchaus nicht, egal, von welchem Designer.
Der Afternoon-Tea bleibt also eine Veranstaltung für besondere Anlässe. Für gut 40 Euro pro Person kann sich ein Durchschnittsverdiener die Teezeremonie auch kaum als Zwischenmahlzeit leisten. Tee ist der neue Power-Lunch all jener, die sich zu Geschäftsessen treffen, denen das Mittagessen zu zeitraubend ist und ein Dinner zu informell scheint. Die Gäste werden jünger, vor allem Frauen entdecken Tee als Gesundheitswunder. Antioxidantien im grünen Tee sollen gegen Krebs, Herzkrankheiten und Hautalterung wirken. Da wird der Drei-Gänge- Luxus zur kulinarischen Wellnessbehandlung.
Lieblose Massenkost in schäbigen Restaurants
"Die Leute sind es leid, sich in schäbigen Kettenrestaurants lieblos hergestellte Massenkost hineinzuschieben", sagt Jane Pettigrew. Was eine schöne These ist, auch wenn die Schlangen in den Londoner Starbucks- Filialen eine andere Sprache sprechen. Doch wahrscheinlich braucht der Londoner beides: den schnellen Kaffee- Kick und, wenn alles zu hektisch wird, die luxuriöse Fünf-Uhr-Entspannung. Die Teesalons der Hotels sind jedenfalls auf Wochen ausgebucht; das Hotel Ritz empfiehlt sogar, zehn Wochen im Voraus zu buchen. "Das Teetrinken verbindet uns mit einer tausendjährigen Geschichte", sagt Jane Pettigrew. "Und in hektischen Zeiten lieben die Menschen Nostalgie." Oder wie der chinesische Dichter T’ien Yi- Heng sagte: "Man trinkt Tee, um den Lärm der Welt zu vergessen."