Schlachtfest Uwe Seeler und die fleischlichen Freuden

  • von Stephan Draf
Sülze, Kesselfleisch und Bregenwurst - wenn Uwe Seeler, Max Lorenz und andere Fußballspieler des legendären Wembley-Teams beim Schlachtfest zusammenkommen, werden aus ihnen wahre Wurst-Gourmets.

Jetzt, nach 72 Länderspielen mit 43 Toren, nach einer gewonnenen Meisterschaft und einem Pokalsieg, und 72 abgeleisteten Lebensjahren, kann man es ja sagen: Uwe Seeler wäre am liebsten Schlachter geworden. "Oh, die Knackwürste", sagt Seeler und hört sich an wie Dittsche in der Imbissbude, "die mochte ich schon als Kind. Und hatte mir überlegt, wenn ich davon immer genug haben will, muss ich sie selber machen." Aber die Mama erlaubte das nicht. "Junge", sprach Anni Seeler, "Schlachter verträgt sich mit deinem Sport - die saufen doch alle!"

Andererseits kann man mit Fleischhändlern halt gute Würste essen, und so sitzt Seeler nun strahlend in einem bürgerlichen Wohnzimmer Marke Gelsenkirchener Barock und schaut fröhlich auf die vor ihm liegenden Pretiosen: Rotwurst. Bregenwurst. Knappwurst. Sülze. Kesselfleisch. Alles aus demselben Schwein gemacht, das bis vor sehr kurzer Zeit noch die Weiden in niedersächsischen Steinhude unsicher machte.

Um Seeler herum sitzt deutsche Fußballgeschichte: Max Lorenz ist da, ebenfalls deutscher Meister und wie Seeler im Kader jener deutschen Mannschaft, die seit 1966 durch das "Wembley-Tor" unvergessen bleibt. Und Willi Schulz, Abwehrchef der 66er Truppe und heute im Aufsichtsrat des HSV. Hinten in der Ecke: Harry Bähre, dessen Bundesliga-Spielerpass die Lizenznummer 001 trägt und ihn als ersten deutschen Profi-Fußballer ausweist. Schließlich komplettieren Gastronomen die Runde: Heinrich Höper, Chef von Delta-Fleisch in Hamburg, sitzt neben dem Aufseher der Hamburger Messe, Schlachter Hübenbeker aus den Elbvorten vermisst gerade den Herrn Erdogan, Manager eines Edelhotels in Warnemünde: "Wo iss'n der Erdo?" "Oh", grinst Seeler, "der ist gerade für Königstiger."

Sämtliche Herren sind jenseits der 50, einige über 70 Jahre alt. Schon seit fünf Jahren machen sie sich Anfang März auf die Reise ins tiefste Niedersachsen. Vom Gastgeber wissen sie nur den Namen, der den Männern jener Familie seit Generation verliehen wird: "Deutscher Willem", so steht es in Holz geschnitzt an der Eingangstür des Rotklinkerheimes in Steinhude, das Plastikschild mit dem bürgerlichen Namen "Rusche" übersieht man leicht.

Ein stattliches Schwein von 250 Kilo

Willem also, ebenfalls in den Dreißigern geboren, hat nicht nur einen Namen geerbt, sondern auch die Angewohnheit seiner Ahnen, jedes Jahr ein Schwein von einem Bauern per Handfütterung mästen zu lassen. In diesem Jahr brachte das Tier ausgeruhte 250 Kilo auf die Waage, handelsübliche Ware wiegt höchstens die Hälfte. Schlachten tut ein Fachmann, aber beim Wursten ist Willem - groß, staatlich, weiße Haare - schon wieder dabei: "Nee, nee, die Endwürze mach' ich. Auch wenn der Schlachter mir gern mal die Hand festhalten würde." Aber der Willem ist sich seiner Sache sicher, so sicher, dass er übers Jahr keine Wurst kauft, die nicht in seiner Gegenwart entstanden ist. Dafür lädt er alte Kumpels ein, die er in seiner großen Zeit als Händler teurer Autos erst als Kunden und dann als Menschen schätzen lernte.

Leider sind heute ein paar liebe Freunde nicht anwesend, Hans Tilkowski namentlich, jener Keeper von 1966, hinter dessen Rücken jenes Tor fiel oder nicht fiel, das fortan in einschlägigen Kreisen berühmt wurde - und mit ihm die Frage: Der Ball, auf der Linie oder dahinter? Seeler und Lorenz sind längst über die unglückliche Niederlage hinweg, erzählen aber gern, dass Tilkowski sein Pech noch nicht verwunden hat: "Der hat ja nun nichts gesehen, nicht wahr, der Ball war ja hinter ihm. Aber sag dem mal, der war drin, du, da tanzt der auf'm Tisch." Aber Tilkowski tanzt heute leider nicht, sondern erholt sich von einer Herzoperation, die vor zwei Tagen erfolgreich - "Gott sei Dank" seufzt die Runde - verlaufen ist.

Warum solch erfolgsverwöhnte, in vielen Galas gestählte Männer dieser vergleichsweise spartanischen Einladung willig Folge leisten? Nun, so schnell und problemlos kann man sonst nicht in die gute alte Zeit reisen, in der das meiste doch irgendwie besser war und in der auch die meisten Geschichten spielen, die heute Abend erzählt werden. Uwe Seeler erinnert sich beispielsweise seines kickenden Vaters Erwin (die Runde nickt wissend im Gedenken an den verehrten Hafenarbeiter), der weiland in den Dreißigerjahren als Arbeitersportler sich mal nach einer Viertelstunde das Wadenbein brach und trotzdem bis zum Abpfiff auf dem Platz blieb. "Tja" sagen Seeler, Lorenz, Schulz und Bähre, "das waren andere Zeiten - Auswechseln gab’s da ja noch nicht." Und komplettieren die Legende mit der Erzählung mit der sagenhaften Torquote von "Old Erwin" im Länderspiel gegen Ungarn bei der Arbeiter-Olympiade 1931: Sieben Tore schoss er ganz allein, das Spiel endete 9:0.

"Wer solche Würste jemals probiert hat, kann nicht Vegetarier werden"

Ähnlich überwältigend, das stellen die Esser in regelmäßigen Abständen fest, sind die fleischlichen Freuden auf dem Tisch: "Wer solche Würste jemals probiert hat, kann gar nicht Vegetarier werden", stellt Harry Bähre kauend fest, und recht hat er: Für die Rotwurst hat der Willem noch 25 Schweinezungen, für die Leberwurst extra Leber zugekauft - mit beidem könnte man Profi-Gourmets sehr, sehr glücklich machen. In der Sülze steckt Vorderschinken und eine Senfkörner-Würze, für die Bregenwurst hat Willem tagelang Zwiebeln geschält.

Aus besseren Tagen ist auch die Metzelsuppe, die Willems Frau Erika jetzt in schmucklosen Tassen serviert: Aromatisch, dampfend und von einer derartigen Durchschlagskraft auf Körper und Geist, dass Aufsichtsrat Willi Schulz ernsthaft überlegt, diesen Trank seinen HSV-Kickern vorm Spiel einzuverleiben: "Mensch, das gibt doch so ne Kraft." Aber woher nehmen, diese Brühe? Nur beim Willem gibt es sie in dieser Reinform, sie entsteht traditionell beim Kochen der Wurst und wird von Frau Erika nur minimal nachgewürzt, mit etwas Zwiebeln verfeinert, den Kümmel hat sie heute vergessen, gemerkt hat's keiner. Wie auch, inzwischen ist das Gespräch beim Stadionlogen-Klatsch angelangt, denn natürlich schaut sich hier keiner die Spiele aus der Fankurve an. Und so wird jetzt das Neueste über den "Franz" (den Kaiser aus Bayern) erzählt, der Fleisch-Kollege Tönnies (der dem FC Schalke 04 als Präsident vorsteht) veräppelt oder durchaus bewundernd angemerkt, dass der Gerd (der Müller) "jetzt ja mit zwei künstlichen Hüften spielt". Dolle Sache, findet man in Steinhude.

"Uwe Seeler - Du bist einer von uns"

Je länger der Abend, desto alberner die Gäste - obwohl das Bier keineswegs in Strömen fließt. "Wir sind auch so lustig" jauchzt Fleisch-Boss Heinrich Höper und lässt aus seinem Handy zum gefühlten 100. Mal das Lied "Uwe Seeler - Du bist einer von uns" erklingen, der Song ist so furchtbar schlecht, dass es jetzt selbst Seeler nicht mehr hören mag. Und deshalb flugs das Gedudel übertönt, indem er sich erinnert, wie er vor Jahrzehnten gemeinsam mit Max Lorenz der deutschen Sportpresse wochenlang erzählt habe, der damals noch ranke Höper sei ein echtes Fußballer-Schnäppchen, spiele beim italienischen Spitzenclub Bologna, sei aber einem Wechsel nach Deutschland nicht abgeneigt. Die Lüge hielten sie durch, bis der Chefredakteur des "Kicker" zaghaft nachfragte, ob er den Kerl mal kennen lernen könne, der tauche ja in Bologna in keiner Spielerliste auf...

So gegen Mitternacht herrscht Aufbruchsstimmung: Eine letzte Zigarre, noch ein Scheibchen vom Schinken, noch ein Stück vom sagenhaften Kesselfleisch, noch ein Zipfel Wurst. Und eine letzte Geschichte: Willi Schulz, Hamburger Urgestein, kommt ja eigentlich aus Gelsenkirchen. Und spielte dort beim Traditionsclub Schalke 04. Dessen Fans erkoren den Abwehrspieler zum Helden, der Willi hatte dann auch gleich eine Kneipe am Schalker Marktplatz. Als er dann 1965 Schalke Richtung Hamburg verließ, blockierten die Fans seine Kneipe und wiesen alle Gäste an, sich ihr Bier aus dem Kiosk nebenan zu holen. Willi Schulz ließ sie gewähren, kein Wunder: "Was die nicht wussten: Das Kiosk gehörte mir auch." Prusten, Schulterklopfen, schnell verteilt Heinrich Höper aus einem Briefumschlag noch die Logenkarten von Delta-Fleisch für’s nächste HSV-Spiel. Der Schlusspfiff bleibt Seeler vorbehalten: "Das Schöne ist ja" und dabei streicht er sich seufzend über die Glatze, "auswärts essen kostet nichts."

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