Zwischen London und Luxemburg, zwischen Polen und Portugal, überall im großen weiten Euroland führten in den letzten Tagen und Wochen Spitzenpolitiker und Sherpas unendlich viele Vorgespräche hinter verschlossenen Türen. Wieder mal galt es kurz vor einem Gipfel in Brüssel Uneinigkeiten zu bereinigen, wieder mal war alles so hoch kompliziert, dass der Bürger nur noch Bahnhof versteht. Von "roten Linien" war die Rede, von "Quadratwurzeln" und davon, dass Europas Verfassung, die es auf dem Morgen beginnenden Gipfel zu retten gilt, auf keinen Fall mehr Verfassung heißen wird.
Doch nun, wo all die hektischen Vorverhandlungen abgeschlossen sind, hat sich der Nebel eher verdichtet und es ist zu befürchten, dass EU-Ratspräsidentin Angela Merkel in Brüssel scheitert mit ihren Bemühungen, die EU-27 endlich mit einem in klare Worte gefassten Statut zu einer handlungsfähigen Wertegemeinschaft zu machen - wo es doch, wie die Kanzlerin gerne sagt, "keinen besseren Platz für unser Leben gibt als unser gemeinsames europäisches Haus."
Mehr Stimmen für kleine Länder
Vor allem Polen sperrt sich indessen gegen Merkels neuen Verfassungs-Fahrplan. Die Warschauer Regierung will die seit Jahren feststehende und einst mit ihrer Zustimmung beschlossene Stimmverteilung im Europäischen Rat neu regeln, fordert die Einführung eines "Quadratwurzelsystems", das kleineren Ländern mehr Stimmen im Verhältnis ihrer Einwohnerzahl verleihen würde.
Eine Forderung, die teils auch von Tschechien vertreten wird und nicht ganz ohne Berechtigung ist, weil große Länder nach dem bestehenden Abstimmungsmodus leicht Koalitionen bilden können, gegen die kleinere Staaten machtlos sind. Eine Forderung indes, die in ihrer Nachträglichkeit an die leicht versponnene Vorstellung grenzt, man könne eben mal die Tiefgeschosse eines Wolkenkratzers einreißen und neu konstruieren.
Unterschwellige Nein-Stimmung
Auch die Briten haben fundamentale Vorbehalte. Sie sind unter anderem gegen die in der bisherigen Verfassung verankerte Position eines gemeinsamen Außenministers (er wird nun vermutlich zu einem "Sekretär" heruntergestuft) und gegen die Grundrechte-Charta. Nicht nur Polen und Briten gefährden am Vorabend des Gipfels den Verfassungs-Konsens, auch die Niederländer stehen ihm kritisch gegenüber. Es grassiert eine diffuse Angst vor einem vermeintlichen "europäischen Superstaat", eine unterschwellige Nein-Stimmung, die auch Mitgliedstaaten erfasst hat, die der ursprünglichen Verfassung bereits zugestimmt haben. Selbst Europas Hymne und Flagge - zwischen Rom und Riga längst alltägliche Realität - sollen nach Meinung einiger Staaten im Vertragstext unerwähnt bleiben, weil europäische Symbole angeblich die nationale Identität bedrohen.
Immer mehr wurde zuletzt deutlich, dass die Verfassung, deren Substanz die Kanzlerin zu erhalten versprochen hat, zur Verhandlungsmasse geworden ist, zum Gegenstand allgemeiner Schacherei. Klammheimlich hoffen da einige Staaten auf ein dickes polnisches Veto - damit sie selbst auf dem Gipfel keine Einwände gegen "allzu viel Europa" vorbringen müssen.

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Kommt diesmal das Veto aus Polen?
Eine ähnliche Lage wie vor zwei Jahren, als sich nach dem doppelten Nein zur Verfassung in Frankreich und den Niederlanden viele in London, Prag und anderswo schadenfroh die Hände rieben und geradezu erleichtert waren, im eigenen Land kein Referendum mehr abhalten zu müssen. Die bösen Europa-Verächter, das waren damals die Franzosen und Niederländer, diesmal könnten es die Polen sein.
Für die EU und ihre gegenwärtige Schutzpatronin Angela Merkel ist das eine höchst prekäre Situation. Zwar hat Europa zuletzt viele Erfolge vorzuweisen. Die Arbeitslosigkeit sinkt, beim Klimaschutz geht es voran, das Telefonieren mit dem Handy wird billiger. Doch die Resultate werden Europa nicht gut geschrieben.
Wir-Mentalität fehlt
Brüssel spielt eher die Rolle des nützlichen Idioten. Und auf dem Gipfel steht für die meisten Staats- oder Regierungschefs noch immer nicht der europäische Teamgeist im Vordergrund, jeder will vielmehr im eigenen Land vorführen, wie prima er auf europäischer Bühne die nationalen Interessen durchsetzt. Wenn in den nächsten Tag in Brüssel kein Ausweg aus der Verfassungskrise gefunden wird, könnte das europäische Haus am Ende aussehen wie ein Kathedrale, der sämtliche Reliefs abgeschlagen wurden. Wie ein vollkommen unschönes Gebäude. Oder wie eine verunstaltete Idee.