Lange war China die Nummer eins in der Welt, wenn es um die Zahl der Bevölkerung ging – gefolgt vom Nachbarland Indien. Nun soll aber die Bevölkerungszahl Indiens nach Schätzungen des UN-Bevölkerungsfonds UNFPA für die Mitte des Jahres höher sein als die von China, wie aus Daten des Weltbevölkerungsberichts der Organisation hervorgeht. In Indien sollen dann demnach 1,4286 Milliarden Menschen leben, in China 1,4257.
Wann genau Indien China ablöst, könne niemand sagen, hieß es von den Vereinten Nationen. Andere Berichte sagen, dass Indien China bereits am 14. April dieses Jahres überholt habe. Doch es fehlen schlicht die genauen Daten. In Indien beispielsweise stammen die Zahlen der letzten Volkszählung aus dem Jahr 2011.
Das die indische Bevölkerung über die Jahrzehnte teilweise so rapide wachsen konnte, hat viele Gründe: gestiegene Lebenserwartung und Löhne, Zugänge zu sauberem Trinkwasser und Kanalisation, gesunkene Mortalitätsraten, frühe Ehen, schlechter Zugang zu Bildung.
Hohe Arbeitslosigkeit in Indien ein Problem – besonders für Junge
Und Indiens Bevölkerungswachstum dürfte nicht so schnell enden: Angesichts seiner überwiegend jungen Bevölkerung könnte die Zahl der Menschen in Indien noch mehrere Jahrzehnte lang steigen. Erst 2050 rechnet man mit dem Scheitelpunkt beim Bevölkerungswachstum – bei einer Einwohnerzahl von 1,6 Milliarden Menschen.
Diese junge Bevölkerung ist in den Augen vieler Inder ein wichtiger Faktor zur Stärkung Indiens. Durch die hohe Zahl an jungen Menschen gibt es in dem südasiatischen Land mehr potenziell Werktätige, die die Wirtschaft voranbringen könnten. Indische Politiker haben diese Tatsache immer wieder als "Demografische Dividende" bezeichnet, als Booster für die Wirtschaft und als Chance, die Lebensumstände von Millionen zu verbessern.
Ist die wachsende Bevölkerung Indiens also gut für das Land?
Nicht unbedingt. Denn das Bevölkerungswachstum könnte einen Rattenschwanz an Problemen nach sich ziehen.
Das erste und wohl auch größte Problem hängt auch schon direkt mit der Arbeitskraft zusammen: Zwar gibt es viele potenzielle Arbeitnehmer – doch zu wenige Jobs. Viele junge Inderinnen und Inder sind arbeitslos. Diese zu schaffen gehört zu einer der größten Herausforderungen für die Regierung von Premierminister Narendra Modi. Indien braucht jedes Jahr etwa neun Millionen neue Arbeitsplätze, um mit dem Wirtschaftswachstum Schritt zu halten, berichtete die "New York Times" etwa. Laut einem Bericht des McKinsey Instituts müsste Indien bis 2030 90 Millionen Jobs schaffen, um die Arbeitslosenzahlen auf einem Level zu behalten – und jedes Jahr kommen rund fünf Millionen neue Kräfte auf den Arbeitsmarkt, was das Problem der Arbeitslosigkeit verschärfen könnte.

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Wenige Frauen in Arbeit – viel Binnenmigration
Hinzu kommen stagnierende Löhne: Laut einer Analyse von Jean Dreze, einem Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Delhi, stagnieren die Löhne seit acht Jahren, wie die "New York Times" weiter berichtete. Sollten die Löhne trotz Wirtschaftswachstum nicht steigen, könnte das zu sozialem Sprengstoff in der Gesellschaft werden.
Was die Situation erschwert: Viele Frauen sind in Indien nicht in Arbeit; nur etwa 20 Prozent der indischen Frauen haben einen Job. Das stellt ein Hindernis für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes dar. Dass so wenige Frauen außerhalb ihres Zuhauses arbeiten, liege auch an den niedrigen Löhnen, so Ökonomen.
Viele Frauen in Indien arbeiten zudem in der Landwirtschaft. Dabei würden sie vielmehr in der Industrie oder im öffentlichen Dienst benötigt, um das Wachstum Indiens voranzutreiben und auch zu mehr Wohlstand beizutragen.

Ein weiteres Problem: Migration innerhalb des Landes. Nach Angaben der britischen BBC sind rund 200 Millionen Inder innerhalb des Landes umgezogen – Tendenz steigend. Viele verlassen Dörfer, um in der Stadt Arbeit zu finden, was die Städte wachsen lässt und vor Probleme stellt. Denn je mehr Menschen in die großen Städte ziehen, desto schwieriger wird es, für sie angemessenen Wohnraum zu schaffen. Slums und Krankheiten drohen. Auch die Infrastruktur des Landes würde mit einer steigenden Population an seine Schmerzgrenzen und darüber hinaus gebracht werden, ebenso die Gesundheits- und Sozialdienste.
"Indien muss Jugend in den Mittelpunkt stellen"
Zudem würden die natürlichen Ressourcen deutlich stärker beansprucht. Nahrungsmittel und Wasser – die in manchen Teilen Indiens ohnehin knapp sind – könnten noch knapper werden. Besonders für ärmere Menschen würde das Problem des Hungers und der Unterernährung zusätzlich verschärfen.
Kann Indien mit einer noch wachsenden Bevölkerung eine Katastrophe noch abwenden?
Ja, aber das Fenster für die Lösungen wird immer kleiner, warnen Experten.
"Die Arbeitslosigkeit war in den letzten zwei Jahrzehnten eine der größten Herausforderungen für die indische Wirtschaft, und es gibt keine Anzeichen für eine Verbesserung", sagte Himanshu, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Jawaharlal Nehru University in Neu-Delhi, der nur einen Namen trägt, dem Sender Al Jazeera. "Wir haben ein kleines Zeitfenster vor uns. Ich glaube nicht, dass die Bevölkerungszahlen so wichtig sind wie die Frage, was man mit der 'demografischen Dividende' anfangen soll."
Poonam Muttreja, die Geschäftsführerin der Population Foundation of India (PFI), erklärte dem Magazin "Time", dass Indien als bevölkerungsreichstes Land der Erde nun einen Paradigmenwechsel einleiten könnte.
"Um die 'demografische Dividende' zu nutzen, muss das Land die Jugend in den Mittelpunkt seiner Politik stellen", sagte sie.
Eine Möglichkeit wäre es, Investitionen in Indien attraktiver zu machen, sagen Ökonomen. Mahesh Vyas, der Geschäftsführer des in Mumbai ansässigen Datenforschungsunternehmens Centre for Monitoring Indian Economy (CMIE), kritisierte etwa die "Unberechenbarkeit", die es in Indien beispielsweise in der Wirtschaft gebe. Dies werde "die Industrie davon abhalten, langfristige Investitionen zu tätigen".
Programm zur Familienplanung senkt Geburtenrate
Und Frauen müssten zusätzlich gestärkt werden, erklärt Poonam Muttreja. "Indien kann es besser machen, wenn es in die Gleichberechtigung der Frauen und die wirtschaftliche Entwicklung investiert."
Bessere Bildungsmöglichkeiten, eine andere gesellschaftliche Sichtweise auf Frauen und mehr Sicherheit für Frauen wären neben einem besseren Zugang zu Familienplanung Ansätze, die das Potenzial der indischen Frauen für das Wirtschaftswachstum ausschöpfen könnten.
An dieser Stelle hat sich in Indien allerdings schon einiges getan: Seit 1952 hat das Land ein entsprechendes Programm für die Familienplanung lanciert – und die Menschen dazu aufgerufen, kleine Familien zu haben. Auch nutzten nach Regierungsangaben rund zwei Drittel der Paare Verhütungsmittel. Diese sind in Indien kostenlos erhältlich. Für Sterilisationen gibt es gar finanzielle Anreize vom Staat. Früher wurden Menschen in dem Land teils zur Sterilisierung gezwungen.
Das Programm scheint geholfen zu haben, die Geburtenrate zu senken. Inzwischen haben Inderinnen nach offiziellen Zahlen noch 2.0 Kinder im Durchschnitt – in den 1970er-Jahren waren es noch 5.
Quellen: Nachrichtenagentur DPA, "Der Neue Kosmos Welt-Almanach & Atlas 2023", McKinsey Global Institute, Sri Chaitanya Educational Institutions, "The New York Times", BBC, Al Jazeera, "Time", Millennium Alliance for Humanity and Biosphere