Lützerath Gewalt-Vorwürfe fliegen hin und her – die Bilanz einer denkwürdigen Räumung

Demonstration in Lützerath
Tausende kamen am Wochenende nach Lützerath, um zu demonstrieren – nicht alle blieben dabei friedlich
© Sean Gallup / Getty Images
Das Dorf Lützerath ist Geschichte. Die Polizei hat die Räumung der früheren Siedlung beendet, nun läuft der Abriss. Eine Bilanz des Einsatzes.

Am Mittwochmorgen begann die Räumung des Dorfes Lützerath am Braunkohletagebau Garzweiler – und schon am Wochenende meldete die Polizei: "Räumung abgeschlossen."

Nachdem die ersten Tage des Einsatzes weitgehend friedlich verliefen, eskalierte am Samstag die Gewalt. Sowohl die Aktivisten als auch die Beamten werfen sich seither gegenseitig vor, sie angeheizt zu haben – und operieren dabei jeweils mit ihren eigenen Zahlen und Deutungen.

Bilanz der Lützerath-Räumung

Am Rande der Demo hatten laut Polizei rund 1000 großenteils vermummte "Störer" versucht, auf das abgesperrte Gelände von Lützerath vorzudringen. Um sie abzuwehren, setzte die Polizei Wasserwerfer, Schlagstöcke und Pfefferspray ein. Zwölf Personen wurden fest- oder in Gewahrsam genommen.

Der Energiekonzern RWE äußerte sich "entsetzt über die Aggressionen und die Gewalt". Der Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Michael Mertens, sprach ebenfalls von massiven Angriffen eines Teils der Demonstranten auf die Polizei. "Den von der Bühne verbreiteten Aufruf 'Jeder kann machen, was er will. Jeder entscheidet selber, wie weit er geht' hätte es nicht geben dürfen", kritisierte Mertens. "Er ist offenbar von militanten Braunkohlegegnern als Freibrief verstanden worden, mit Gewalt gegen die Polizisten vorzugehen."

Die Veranstalter der Demo und Sprecher der Lützerather Aktivisten warfen umgekehrt der Polizei Gewalt-Exzesse vor. Eine Sprecherin des Sanitätsdienstes der Demonstranten sagte, es sei eine "hohe zweistellige bis dreistellige Zahl" von Teilnehmern verletzt worden. Darunter seien viele schwerverletzte und einige lebensgefährlich verletzte Menschen gewesen. Die Polizei habe "systematisch auf den Kopf von Aktivistinnen und Aktivisten geschlagen".

Nach Polizei-Angaben wurden dagegen lediglich neun Aktivisten mit Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht. "Glücklicherweise ist niemand lebensgefährlich verletzt worden", so die Polizei. Ein Video zeigt, wie auch die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg, die deutsche Aktivistin Luisa Neubauer und andere auf einem Feld von Polizisten abgedrängt werden. Thunberg kehrte am Sonntag noch einmal an die Tagebaukante zurück und nahm an einer Spontan-Demo teil.

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Greta Thunberg kritisiert RWE

Die 20-Jährige war die Hauptrednerin bei der Demo am Samstag, zu der nach Polizei-Schätzungen 15.000, nach Angaben der Veranstalter sogar mindestens 35.000 Menschen gekommen waren. "Lützerath ist noch da, und solange die Kohle noch in der Erde ist, ist dieser Kampf nicht zu Ende", sagte Thunberg unter dem Jubel der Zuhörer. Es sei ihr unbegreiflich, dass im Jahr 2023 noch immer Kohle abgebaggert und verfeuert werde, obwohl zur Genüge bekannt sei, dass der dadurch ausgelöste Klimawandel in vielen Teilen der Welt Menschenleben koste. "Deutschland als einer der weltweit größten Verschmutzer hat eine enorme Verantwortung", mahnte Thunberg.

Die Polizei teilte am Sonntag mit, dass auch die insgesamt 35 "Baumstrukturen" sowie knapp 30 Holzkonstruktionen in Lützerath geräumt worden seien. Knapp 300 Personen seien aus Lützerath weggebracht worden, wobei es zu vier Widerstandshandlungen gekommen sei. Seit Beginn der Räumung seien 154 Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. Mehr als 70 Polizistinnen und Polizisten seien seit Beginn des Räumungseinsatzes verletzt worden, teils durch Angriffe, teils aber auch beispielsweise durch Umknicken im tiefen Schlamm vor Ort.

Die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Ereignisse werden Politik und Justiz in Nordrhein-Westfalen möglicherweise noch lange beschäftigen. "Es sind Legitimationsversuche von beiden Seiten. Wir wissen noch nicht genau oder nicht detailliert, was genau in Bildern auch beweisbar ist. Aber wir merken im Moment, dass beide Gruppen bemüht sind, das, was sie getan haben, zu erklären und auch zu legitimieren – zumindest moralisch und die Polizei auch rechtlich", sagte Polizeiwissenschaftler Raphael Behr dem Westdeutschen Rundfunk.

DPA
wue