Eine Nesselsucht bedeutet für den Allergologen immer eine Herausforderung. Zum einen, weil sehr viele verschiedene Auslöser für die Symptome infrage kommen, und zum anderen, weil die Erkrankung in unterschiedlichen Formen auftritt. Äußere Reize wie Wärme, Kälte oder Licht können die Haut ebenso reagieren lassen wie hormonelle, virale, bakterielle oder psychische Faktoren. Auch Nahrungsmittel und Medikamente sind häufige Auslöser. Dass die Nesselsucht so komplex ist, mag einer der Gründe dafür sein, warum in etwa der Hälfte der akuten und in zwei Dritteln der chronischen Fälle weder die Betroffenen noch ihre Ärzte herausfinden, was ihre Beschwerden hervorruft.
Dabei ist die Urtikaria, wie Ärzte die Erkrankung nennen, weit verbreitet - Experten halten sie für eine der häufigsten Hautkrankheiten überhaupt: Studien zufolge leidet jeder vierte bis fünfte Deutsche mindestens einmal in seinem Leben unter einer Nesselsucht. Dabei tritt die akute Form mindestens zehn Mal häufiger auf als die chronische und meist in der ersten Lebenshälfte. Schon Kleinkinder können davon betroffen sein. Anders als eine Allergie wie Heuschnupfen tritt die Nesselsucht heute aber nicht wesentlich häufiger auf als vor 30 Jahren.
Da die Nesselsucht sehr unterschiedlich ausfallen kann, wird sie nach verschiedenen Gesichtspunkten eingeteilt, etwa nach Verlauf und Ursachen:
- Spontane Nesselsucht. Je nach Dauer wird sie in akute und chronische Urtikaria eingeteilt.
- Physikalische Nesselsucht. Sie entsteht etwa durch Reibung, Licht, Kälte, Wärme oder Druck.
- Cholinergische Nesselsucht. Diese häufige Sonderform entsteht, wenn die Körpertemperatur ansteigt. Sie zählt wie die physikalische Nesselsucht zu den induzierbaren Urtikarien.
- Kontakt-Nesselsucht. Sie tritt an der Stelle auf, an der die Haut einen Auslöser berührt.
Eine der unangenehmsten Krankheiten
Nesselsucht zählt zu den unangenehmsten Hautkrankheiten. Die größte Qual bereitet dabei der Juckreiz - für Patienten ist er oft schlimmer als die manchmal sehr entstellenden Quaddeln. Sie schlafen nicht mehr und können sich kaum auf ihre Arbeit konzentrieren, weil sie sich andauernd kratzen müssen.
Im Extremfall kann es bei einigen Formen der physikalischen Nesselsucht zum Kreislaufschock kommen. Wer unter einer Kälte-Nesselsucht leidet und schon einmal mit Kreislaufreaktionen, Luftnot oder Angioödem auf einen Nesselschub reagiert hat, sollte immer ein entsprechendes Notfallset und eventuell einen Notfallpass dabei haben.
Symptome
Eine Nesselsucht entsteht oft sehr schnell: Innerhalb weniger Minuten ist eine begrenzte Stelle auf der Haut oder der gesamte Körper mit Erhebungen übersät. Je nach Auslöser kann die Nesselsucht sehr unterschiedlich aussehen: Die Hautschwellungen können so klein wie ein Stecknadelkopf oder größer als eine Handfläche sein, weißlich oder rötlich sein, punktuell oder großflächig auftreten. Meist jucken sie stark oder brennen und klingen nach spätestens 24 Stunden wieder ab, ohne Narben oder andere Spuren zu hinterlassen. So ein Schub kann sich über mehrere Tage oder sogar Wochen erstrecken - es kommen dann immer wieder neue Quaddeln nach. Der Grund: Hauteigene Abwehrzellen, sogenannte Mastzellen, setzen den Botenstoff Histamin frei. Der spielt bei der Nesselsucht die entscheidende Rolle.
Patienten mit Nesselsucht leiden oft auch an Angioödemen, eine Schwellung der tieferen Hautschichten. Angioödeme treten bei bis zu zwei Dritteln aller Patienten mit chronischer Nesselsucht auf, meist zusammen mit Quaddelbildung.
Die Brennnessel war Namenspatin
Fast jeder ist schon einmal mit den Härchen einer Brennnessel in Berührung gekommen und hat den darauf folgenden Schmerz erlebt. Von dieser Pflanze leitet sich der umgangssprachliche Name Nesselsucht ab. Selbst in der Wissenschaft war die Pflanze Namenspatin: Brennnessel heißt auf lateinisch Urtica. Daraus wurde in der medizinischen Fachsprache die Urticaria oder Urtikaria.
Brennnesselhärchen sind kleine Röhren, die viele Wirkstoffe enthalten - unter anderem Ameisensäure und Histamin. Bei Berührung bricht die Spitze der kleinen Röhren ab. Das Härchen sieht nun aus wie eine Mini-Spritzenkanüle, die sich durch die Haut bohren und ihre Substanzen injizieren kann. Dann lagert sich Wasser in der Haut ab, die Stelle schwillt an und es entstehen brennende Erhebungen: die Quaddeln.

Diagnose
Da die Krankheit unendlich viele Auslöser haben kann, sind oft nur spezialisierte Hautärzte in der Lage, die einzelnen Symptome einer bestimmten Nesselsucht zuzuordnen. Wichtigstes Zeichen ist zunächst die Quaddel. Die ist bei einer akuten Nesselsucht aber meist schon wieder abgeklungen, wenn der Betroffene beim Arzt sitzt. Tritt die Quaddel häufiger oder in Schüben auf, wird der Arzt versuchen, den Auslöser zu finden, was viel Arbeit erfordert. Mit einem Nesselsucht-Kalender oder -Tagebuch unterstützen Sie ihn bei seiner Suche. Am besten führen Sie eines von beidem mindestens einige Wochen lang.
Welche Diagnoseverfahren Ärzte bei den einzelnen Urtikariaformen einsetzen, erfahren Sie hier:
Therapie
Der erste Schritt der Behandlung ist, den Auslöser konsequent zu meiden. Jedoch gelingt es nicht immer, den Übeltäter überhaupt zu finden. Und falls dies gelingt, kann es trotzdem schwierig bis unmöglich sein, ihm aus dem Weg zu gehen, etwa wenn es sich um physikalische Reize wie Kälte oder Wärme handelt.
In den meisten Fällen löst der Botenstoff Histamin aus den Mastzellen - das sind körpereigene Abwehrzellen - die Quaddeln aus. Gegen Histamin helfen sogenannte Antihistaminika. Das sind gut verträgliche Allergietabletten, die nicht abhängig machen. Bei einer chronischen Nesselsucht etwa müssen Betroffene die Mittel oft mehrere Monate hindurch regelmäßig einnehmen.
Oftmals ist bei dieser Behandlung die Tablettenmenge höher als auf dem Beipackzettel angegeben. Das liegt daran, dass die Dosierung meist für Heuschnupfenpatienten berechnet ist. Reicht die Standard-Dosis nicht aus, empfehlen Experten ihren Kollegen eine Erhöhung auf das bis zu Vierfache der Menge, um die Nesselsucht zu behandeln.
Reicht auch dies nicht aus, kommt das Medikament Omalizumab zum Einsatz. Das Mittel hemmt IGE, einen wichtigen Aktivator von Hautmastzellen. Das Medikament wird in der Regel alle vier Wochen mithilfe einer Spritze verabreicht – bis zum Verschwinden der Nesselsucht.
Welche weiteren Therapien Ärzte bei den verschiedenen Formen der Nesselsucht einsetzen, erfahren Sie hier:
Tipps
Die Symptome lassen sich lindern, indem Sie möglichen Auslösern aus dem Weg gehen - sofern Sie diese überhaupt kennen oder dies möglich ist. Daneben helfen auch ein paar Tipps im Alltag, die Erkrankung besser in den Griff zu bekommen.
Expertenrat
Marcus Maurer, Forschungsdirektor an der Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie der Berliner Universitätsklinik Charité, antwortet auf Ihre Fragen:
Bei meinem letzten Quaddelschub hatte ich Atemnot und Schluckbeschwerden. Brauche ich ein Notfallset?
Atemnot und Schluckbeschwerden treten bei einer Urtikaria sehr selten auf. Häufiger handelt es sich hierbei um eine allergische Reaktion, bei der auch Quaddeln auftreten können. Notfallsets können Leben retten. Wenn der Hals beim nächsten Mal stark anschwillt und die Atemwege blockiert, schaffen Sie es unter Umständen nicht mehr rechtzeitig in die Notaufnahme. Ihr Notfallset sollte ein flüssiges Antihistaminikum, ein flüssiges Kortisonpräparat und eventuell auch eine Spritze mit Adrenalin enthalten. Sie bekommen das Set von Ihrem Arzt und sollten unter seiner Aufsicht lernen, es einzusetzen. Ein Notfallpass kann ebenfalls sinnvoll sein. In ihm ist vermerkt, unter welcher Form der Nesselsucht Sie leiden - und was im Ernstfall zu beachten ist. So dürfen Patienten mit Kälte-Nesselsucht nur vorgewärmte Infusionen erhalten. Gelangen bei ihnen kalte Lösungen in die Venen, droht ein Schock.
Gibt es eine genetische Veranlagung für Nesselsucht?
Bislang deutet nichts darauf hin, dass die Nesselsucht generell eine erbliche Erkrankung ist. Sind in einer Familie mehrere Mitglieder betroffen, ist das vermutlich Zufall - die Nesselsucht kommt sehr häufig vor. Nur bei der Kälte-Nesselsucht gibt es eine erbliche Form, aber sehr selten: Bisher sind nur etwa ein Dutzend betroffener Familien bekannt.
Hat eine Nesselsucht auch psychische Ursachen?
Derartige Faktoren spielen zumindest bei der physikalischen Nesselsucht in der Regel keine Rolle. Bei anderen Formen hingegen berichten Betroffene immer wieder davon, dass sie einen Quaddelschub hatten, nachdem sie sehr aufgewühlt waren. Mastzellen setzen bei verschiedenen Ereignissen Histamin frei, vermutlich auch bei psychischen. Manche Studien haben gezeigt, dass sich eine chronische Nesselsucht etwa durch den Einsatz von Placebos, Hypnose oder eine Psychotherapie bessern kann.
Entwickeln Menschen mit Nesselsucht häufiger andere Krankheiten?
Das ist nur zum Teil untersucht. Urtikaria-Patienten scheinen häufiger Autoimmunkrankheiten zu haben, insbesondere an der Schilddrüse. Die Gründe dafür sind noch nicht klar. Wenn jemand an Nesselsucht leidet, hat er statistisch gesehen eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, eine psychische Erkrankung zu entwickeln, etwa eine Angststörung oder eine Depression. Derartige Stress-Syndrome sind als Folge der Belastung durch die Urtikaria zu werten. Nesselsuchtpatienten leiden nicht häufiger unter Allergien als der Durchschnitt der Bevölkerung. Und sie leiden ebenso häufig unter Infektionen wie andere Menschen. Das Magenbakterium Helicobacter pylori trägt in Deutschland zum Beispiel jeder zweite in sich. Aber nicht jeder reagiert darauf mit einem Quaddelschub. Es scheinen hier zwei Dinge zusammenzukommen: Eine Grunderkrankung und die Neigung, darauf mit einer Nesselsucht zu reagieren.
Sind schon Kinder von Nesselsucht betroffen?
Deutlich seltener als Erwachsene - und wenn, dann meist von der akuten Form. Es gibt bei Kindern weniger Fälle von chronischer Nesselsucht als bei Erwachsenen. Die physikalische Nesselsucht tritt meist zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr zum ersten Mal auf.
Ich bin schwanger und leide unter Nesselsucht. Worauf muss ich achten?
Oft bessert sich die Nesselsucht während der Schwangerschaft. Das ist gut so, denn keines der wirksamen Medikamente ist in der Schwangerschaft zugelassen - die Wirkstoffe könnten dem ungeborenen Kind schaden. In der Schwangerschaft dämpft der weibliche Körper das Immunsystem automatisch. Schließlich muss es einen Fremdkörper, das ungeborene Kind, tolerieren. Der Organismus bildet mehr Kortison, das auch die Mastzellen hemmt. Deshalb verläuft die Nesselsucht bei Schwangeren oft weniger stark.
Warum verschlimmert sich die Nesselsucht kurz vor meiner Monatsblutung manchmal?
Mastzellen unterliegen hormonellen Einflüssen - auch denen von Sexualhormonen. Während des Zyklus schwanken diese Hormone stark. Kurz vor der Regelblutung feuern die Botenstoffe die Mastzellen noch einmal richtig an und verstärken so in manchen Fällen eine bestehende Urtikaria.
Manchmal sieht es so aus, als würden die Quaddeln über meine Haut wandern. Kann das sein?
Die Quaddeln sind flüchtig und treten manchmal so schnell nacheinander auf, dass eine verschwindet und gleichzeitig direkt daneben eine neue entsteht. Das kann aussehen, als würden die Quaddeln über die Haut kriechen oder wandern. Tatsächlich ist es so, dass eine Hautstelle eine Pause braucht, bevor sie wieder eine Quaddel bilden kann. In ihrer Nachbarschaft können die neuen Quaddeln aber ungehindert sprießen.