Allergische Erkrankungen sind kein Phänomen der Neuzeit. In über tausend Jahre alten Berichten etwa ist die Rede von einem "Rosenschnupfen", der viele Menschen in Persien immer im Frühjahr befallen haben soll. Dass wahrscheinlich Gräserpollen dahinter steckten, wusste man damals noch nicht.
Inzwischen sind Allergien wesentlich besser erforscht. In den vergangenen Jahren haben die Wissenschaftler auch gute Fortschritte darin erzielt, bestimmte Mechanismen besser zu verstehen oder verträglichere Medikamente und hilfreiche Therapien zu entwickeln. Dennoch rätseln die Experten immer noch darüber, warum das einstige Ausnahmeschicksal Allergie zu einem Massenphänomen geworden ist.
Denn das ist es: In allen industrialisierten Ländern hat sich die Zahl der Allergiker in den vergangenen drei Jahrzehnten verdoppelt bis verdreifacht – Tendenz weiter steigend. Schätzungen zufolge hat mittlerweile jeder dritte Deutsche mindestens einmal in seinem Leben Probleme mit einer krankhaft hyperaktiven Immunreaktion, die sich häufig gegen eigentlich harmlose Umweltstoffe wie Hausstaub, Tierhaare, Pflanzenpollen oder Lebensmittel richtet und verschiedene Symptome hervorrufen kann. Daher ist es nicht übertrieben, von einer Volkskrankheit zu sprechen.
Besonders betroffen sind Kinder und Jugendliche. Sie leiden zum Beispiel im Schnitt doppelt so häufig an Lebensmittelallergien wie Erwachsene, auch wenn diese Überempfindlichkeit später oft wieder verschwindet. Ab einem Alter von zwei Jahren nimmt dafür die Neigung, an Heuschnupfen zu erkranken, kontinuierlich zu. Bei den sechsjährigen Kindern in Deutschland sind schon mindestens sieben Prozent davon betroffen (ISAAC).
Schlechte Versorgung der Betroffenen
Die hohe Zahl der Erkrankten hat unter anderem für die Wirtschaft enorme Folgen: Experten der Berliner Charité beziffern den volkswirtschaftlichen Schaden für die EU aufgrund von Allergien bei Erwachsenen, unter anderem wegen der Behandlungskosten und Arbeitsausfälle, auf 100 Milliarden Euro jährlich. Die Mediziner beklagen auch, dass Allergien nach wie vor in der Öffentlichkeit und in der Gesundheitsversorgung nicht ernst genug genommen und verharmlost werden – obwohl sie die Betroffenen gesundheitlich massiv beeinträchtigen, deren Lebensqualität teilweise stark einschränken und sogar einen akuten, lebensbedrohenden Verlauf nehmen können. In der Praxis jedoch kommt es allzu häufig vor, dass Allergiker als "überempfindlich" oder "hysterisch" abgestempelt werden.
So werden nur zehn Prozent der betroffenen Patienten mit Atemwegsallergien korrekt therapiert, schätzt die Deutschen Gesellschaft für Allergologie und klinische Immunologie. Das hat zur Folge, dass die Erkrankung oft fortschreitet und sich verschlimmert. Mehr als 40 Prozent der Patienten mit unbehandeltem Heuschnupfen entwickeln im Laufe von durchschnittlich acht Jahren ein allergisches Asthma.
Ursachenforschung: viele Unbekannte
Auch wenn vieles noch ungeklärt sind, haben Experten zwei Faktoren ausgemacht, die als Ursache für die Entstehung von Allergien eine Rolle spielen: die Vererbung einerseits und Umweltfaktoren andererseits.
So steigt das Erkrankungsrisiko für einen Säugling, je mehr Familienmitglieder bereits Allergiker sind. Am höchsten ist es, wenn sowohl der Vater als auch die Mutter betroffen sind und an derselben allergischen Erkrankung leiden, zum Beispiel an Heuschnupfen (60 bis 80 Prozent). Dieser Wert sinkt entsprechend, wenn beide Elternteile zwar Allergiker sind, aber an verschiedenen Formen leiden (Risiko: 50 bis 60 Prozent) oder wenn nur ein Elternteil (20 bis 40 Prozent) beziehungsweise ein Geschwisterkind (25 bis 35 Prozent) betroffen ist. Bei Kindern, deren beide Eltern allergiefrei sind, beträgt das Risiko zu erkranken noch etwa 15 Prozent.
Wie groß der Einfluss der Umweltfaktoren ist, weiß niemand so genau. Derzeit sind mehr als 60.000 verschiedene Chemikalien im Alltagsleben des modernen Menschen zu finden, schätzt die US-Behörde "Environmental Protection Agency". Dazu kommen weitere 13.000, die in Kosmetika, Medikamenten, Pflanzenschutzmitteln, Lebensmitteln und so weiter enthalten sind. Inwiefern diese Vielfalt an Stoffen die Entstehung von Allergien begünstigt oder überhaupt beeinflusst, wird derzeit erforscht. Es ist aber ein schwieriges und sehr komplexes Unterfangen, da viele Schäden schleichend entstehen und sich oft nur schwer, falls überhaupt, auf ihre tatsächliche Ursache zurückführen lassen.
Was das Ganze zusätzlich erschwert, ist, dass Schadstoffe in der Luft, sowohl die in geschlossenen Räumen als auch die unter freiem Himmel, nie einzeln vorkommen. Es handelt sich stets um verschiedene Substanzen. Einem einzelnen Schadstoff konnte eine allergiefördernde Wirkung bislang nicht nachgewiesen werden – was aber nicht bedeutet, dass es diese Stoffe nicht gibt. Immerhin haben zahlreiche Studien bestätigt, dass die Belastung durch Straßenverkehr Allergien begünstigt. Inzwischen sind auch die möglichen Wechselwirkungen zwischen Schadstoffpartikeln und Pollen ins Interesse der Forscher gerückt.
Für ein Schadstoffgemisch ist die Datenlage aber eindeutig: Tabakrauch. Kinder, deren Eltern rauchen, leiden deutlich häufiger an Asthma und Atemwegserkrankungen.
Schützende Keime?
Auch die so genannte "Hygiene-Hypothese" wird noch diskutiert. Sie geht auf den Epidemiologen David Strachan zurück, der beobachtet hatte, dass in kinderreichen Familien seltener Allergien auftraten. Die Kinder würden aufgrund von "mangelnder Hygiene" in jungen Jahren mehr Infektionen durchmachen, was sie offenbar vor Allergien schützt. Also stellte er die Theorie auf, dass die verbesserten hygienischen Bedingungen die Allergieraten steigen lassen würden.
Einige Studien bestätigten das auch: Kinder, die auf dem Land aufwuchsen, erkranken deutlich seltener eine Allergie als Stadtkinder, hieß es unter anderem. Allerdings ist die Datenlage nicht eindeutig, und es bedarf noch weiterer Forschung, um diese Zusammenhänge genau zu verstehen. Derzeit sieht es danach aus, als hätten der ursprünglichere Lebensstil und bestimmte Keime einen schützenden Effekt.
Neue Empfehlungen zur Prävention
Diese Erkenntnisse haben zu neuen Empfehlungen für eine Allergieprävention geführt. Ärzte empfehlen nun, alle Säuglinge mindestens vier Monate lang ausschließlich zu stillen, ihnen aber ab dem fünften Monat Beikost zu geben, unabhängig davon, ob sie familiär vorbelastet sind oder nicht. Spezielle einschränkende Ernährungsempfehlungen gibt es weder für die Mutter noch das Kind. Eltern sollten ihre Kinder fernhalten von Räumen mit Schimmelbefall und vor Zigarettenrauch sowie Abgasen schützen. Und was das Haustier betrifft: Nicht-Risikokinder müssen nicht aus Sorge vor einer möglichen Allergie von Tieren ferngehalten werden. Bei Risikokindern hingegen ist es schwer abzuschätzen, wie sich die Haltung von Felltieren auf die Entwicklung einer Allergie auswirkt. Experten raten eher dazu, auf die Anschaffung einer Katze zu verzichten. Hunde hingegen erhöhen das Allergierisiko wahrscheinlich nicht, heißt es.