Immer wieder wurden in letzter Zeit Medikamente knapp. Aktuell schlagen vor allem Kinderärzt:innen Alarm, weil Antibiotikasäfte für Kinder Mangelware sind. In den Apotheken, wo die Medikamente ausgegeben werden, sind Probleme bereits früh spürbar. Apotheker:innen warnen deshalb schon seit zehn Jahren vor Lieferengpässen bei Medikamenten.
270 Lieferengpassmeldungen listete das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) im August letzten Jahres (Stand: 10.8.2022). Aktuell sind es 479 (Stand: 3.5. 2023). Seit dem Sommer letzten Jahres habe sich die Situation durch Lieferengpässe in den Apotheken weiter zugespitzt, sagt Thomas Preis im Gespräch mit dem stern. Er ist Apotheker in Köln und Vorsitzender des Apothekerverbandes Nordrhein. Er berichtete dem stern bereits im August 2022 von der Situation in den Apotheken.
Bereits im letzten Jahr gab es Lieferengpässe bei zahlreichen Medikamenten, darunter Fiebersäfte für Kinder und Mittel zur Behandlung von Krebs. Doch die große Zahl an Lieferengpässen habe mittlerweile weitere Kreise gezogen und immer mehr Hersteller mitgerissen: "Ist ein Wirkstoff bei einem Hersteller nicht lieferbar, greifen wir auf den nächsten wirkstoffgleichen Hersteller zurück – und dann ist dieser auch nach kurzer Zeit ausverkauft. Im nächsten Schritt greifen wir Apotheker:innen auf Medikamente mit einem ähnlichen Wirkstoff zurück. Deren Hersteller sind der hohen Nachfrage auch nicht gewachsen und können auch dann ganz schnell nicht mehr liefern", schildert Thomas Preis die Lage.
Momentan seien neben Antibiotika für Kinder auch Insulinpräparate, die Diabetiker:innen benötigen, für Apotheken nur schwer oder gar nicht erhältlich. "In solchen Fällen müssen wir auf andere Präparate umsatteln", sagt der Apotheker. Für Patient:innen kann das bei solchen Fällen bedeuten, dass ihre Therapie umgestellt werden muss – auf ein neues Medikament. Das war in der Vergangenheit bei dem Brustkrebsmedikament Tamoxifen der Fall. Da es keine Alternative zu dem Medikemant gibt, mussten Brustkrebspatient:innen bei der Nachsorge auf ein anderes Mittel umgestellt werden, wenn Tamoxifen nicht erhältlich war.
Ein weiterer Grund für eine angespannte Situatiuon aktuell sei das Infektionsgeschehen. "Seit dem letzten Sommer gab es viele Infektionen – insbesondere bei Kindern. Und sie haben eigentlich das ganze Jahr über angehalten. Wir können nur hoffen, dass es bald wärmer wird und weniger antibiotische Säfte verordnet werden müssen, sonst gehen wir schlecht vorbereitet in den nächsten Winter."
Herstellung von Basis-Medikamenten nicht lukrativ
Ob Fiebersäfte, Antibiotikum, Blutdruckmittel oder Cholesterintabletten – für Hersteller sei es nicht sehr lukrativ, solche Basis-Medikamente herzustellen. Aber eben jene Medikamente werden in Deutschland von vielen Menschen benötigt. "Durch die Energiekrise, den Fachkräftemangel und steigende Lohnkosten wird die Herstellung solcher Medikamente immer weniger attraktiv und Hersteller arbeiten teils defizitär." Einige Hersteller würden aus Verantwortungsbewusstsein weiter in dem Markt bleiben, doch Thomas Preis sieht wenig Hoffnung dafür, dass weitere Pharmafirmen künftig Basis-Medikamente herstellen.
Die Probleme der Versorgungsengpässe hätten sich schon länger abgezeichnet – die Apothekerschaft warne seit zehn Jahren davor, dass man in Deutschland schlecht aufgestellt sei, um die Versorgung mit Medikamenten langfristig sicherzustellen. "Ende 2018 wurden 197 Lieferengpässe beim BfArM gelistet und nun sind es 479 – das ist eine Steigerung von über 150 Prozent in fünf Jahren." Hinzukommt: Das Problem dürfte viel größer sein als die Liste des BfArM zeigt. "Die Liste berücksichtigt nur sogenannte versorgungsrelevante Arzneimittel. Zusätzlich müssen die Medikamente auf der Liste auch verschreibungspflichtig sein. Es tauchen also viele Arzneimittel dort gar nicht erst auf."
Lieferengpässe machen Notdienste schwierig für Apotheken
Das Management der Lieferengpässe sei sehr aufwändig und würde vor allem die Not- und Nachtdienste für die Apotheker:innen erschweren: "Die Notdienste sind sehr schwierig für uns, weil es viele Verordnungen für Medikamente gibt, die Patient:innen wirklich sofort brauchen. Ist ein Medikament nicht lieferbar, wird die Suche nach Alternativen zu einem wahren Kraftakt für uns Apotheker:innen." Im Notdienst müsse sehr schnell gehandelt werden und dazu fehle den Apotheker:innen die nötige Freiheit, kritisiert Thomas Preis. Ist ein rezeptpflichtiges Medikament nicht beschaffbar, müssen Ärzt:innen ein neues Rezept für ein Medikament mit einem ähnlichen Wirkstoff neu ausstellen.
"Fachlich sind wir Apotheker:innen in der Lage, Medikamente mit einem ähnlichen Wirkstoff auszugeben. Zwischen der Ärzte- und Apothekerschaft herrscht Einigkeit darüber, welche Wirkstoffe untereinander ausgetauscht werden können", schildert der Apotheker. Doch ohne mehr Freiheiten werde es wohl noch eine Zeit anhalten, dass er und seine Kolleg:innen mit einem mulmigen Gefühl in den Notdienst gehen, wohlwissend, dass dringend benötigte Antibiotika Mangelware sind. "Einige Apotheken stellen Antibiotikasäfte für Kinder selbst her, aber dadurch sind die Ausfälle nicht zu kompensieren, zumal es an den dafür notwendigen Wirkstoffen ebenfalls mangelt."
Gesetzentwurf der Bundesregierung soll Lage entschärfen
Anfang April hat die Bundesregierung einen Gesetzentwurf verabschiedet, der mehr Sicherheit bei der Lieferung von Medikamenten bringen soll. "Wir haben es in der Arzneimittelversorgung mit der Ökonomisierung übertrieben", sagte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach in der Bundespressekonferenz. Deutschland solle wieder attraktiver als Produktionsort für Generika sein.
Der Gesetzentwurf des Gesundheitsministeriums muss noch durch den Bundestag. Geht es nach Karl Lauterbach soll das Gesetz möglichst schnell in Kraft treten. Aktuell sieht es so aus, dass es Anfang August in Kraft treten könnte. Geplant wird in dem Entwurf unter anderem, dass Fest- und Rabattverträge für Kindermedikamente abgeschafft werden. Pharmafirmen dürften demnach die Preise einmalig um bis zu 50 Prozent des zuletzt geltenden Festbetrages anheben. Die Preissteigerungen würden die Krankenkassen ausgleichen. Dies soll es für Pharmafirmen nach Plänen des Gesundheitsministers attraktiver machen, Kindermedikamente herzustellen.
Außerdem soll die Produktion von Medikamenten in Zukunft verstärkt in Europa stattfinden. Apotheken sollen sich leichter untereinander austauschen können, wenn Medikamente knapp sind. Und für bestimmte Medikamente soll eine dreimonatige Bevorratung bei Apotheken zur Pflicht werden. Kritik am Gesetzentwurf kommt von Seiten des Spitzenverbands gesetzlicher Krankenkassen (GKV). Dort wird befürchtet, dass der Wegfall von Festbeträgen Medikamente für die Verbraucher:innen teurer machen könnte.
Auch seitens der Apotheker:innen gibt es Zweifel an den Plänen des Gesundheitsministers: "Die Einschätzung der Apothekerschaft ist, dass diese langfristig angesetzten Vorhaben, nicht kurzfristig zu einer Versorgungsverbesserung führen. Wir glauben auch nicht, dass die strukturell hervorgerufenen Lieferengpässe so schnell beseitigt werden können", sagt Thomas Preis über das Gesetzesvorhaben. Früher sei "Deutschland die Apotheke der Welt" gewesen, über Jahrzehnte wurde die Produktion nach China und Indien verlagert – dies lasse sich nicht so schnell umkehren. "Der Weg in Europa zu produzieren ist richtig. Es muss aber auch klar sein, dass die künftige Arzneimittelversorgung viel mehr Geld kosten wird, wenn wir genügend Medikamente in Deutschland haben wollen."
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Verbraucher:innen sollten sich früh genug um ein neues Rezept kümmern
So lange weiter bestimmte Medikamente nicht lieferbar sind, heißt es für Verbraucher:innen also, dass sie nicht immer die gewünschte Arznei noch am selben Tag einfach in der Apotheke um die Ecke bekommen. Doch wie sollen Menschen, die auf ihre Medikamente angewiesen sind, damit umgehen?
Wer regelmäßig Medikamente braucht, sollte sich frühzeitig um den Nachschub kümmern, rät Thomas Preis allen Verbraucher:innen. Also: Nicht erst bei der letzten Tablette im Blister in der Hausarztpraxis ein neues Rezept besorgen. Denn: "Es sind immer mehr Produkte von den Lieferengpässen betroffen und je nach Medikament können Patient:innen nicht sicher sein, dass es am selben Tag noch in der Apotheke erhältlich ist."
Quellen: BfArM, Gesundheitsminsiterium, Pharmazeutische Zeitung, GKV