Schneller als das SARS-Virus verbreiten sich in Peking nur Gerüchte. Seit zwei Wochen sammele ich sie, heute habe ich eine Hitliste erstellt, die SARS-Top-Ten.
1. Flugzeuge fliegen nachts über Peking und streuen ein ätzendes Desinfektionsmittel
Dies halte ich im Prinzip nicht für gänzlich undenkbar (bitte lesen Sie dazu meinen Tagebuch-Eintrag von Montag, den 28. April: Warum SARS gut für meine Gesundheit ist!). Harte Recherchen des stern haben hingegen ergeben, dass über Pekings Himmel keine Giftbomber kreisen. Richtig ist im Gegenteil, dass sogar weitaus weniger normale Flugzeuge fliegen. Der Lufthansa-Chef Peter Emmerich, ansonsten ein fröhlicher und optimistischer Mensch, schaut in diesen Tage betrübt aus der Wäsche. Wer will jetzt schon in die Welthauptstadt des SARS-Virus reisen?
Über den Autor
Matthias Schepp, 39, arbeitet seit mehr als einem Jahrzehnt für den stern. Von 1992 bis 1998 berichtete er aus Moskau, 1999 eröffnete er das Büro des stern in der chinesischen Hauptstadt. Mit seiner Frau und den beiden Kindern Moritz (3) und Max (1) lebt er im Zentrum Pekings. Schepp, der in Mainz und Dijon Geschichte studierte, sagt von sich selbst: "Mich interessiert das Verhalten von Menschen in Krisen- und Umbruchzeiten. Das Ende des Kommunismus ist mein großes Thema. In Russland war es gleichsam ein Sekundentod, in Peking beobachte ich das langsame Sterben der Ideen von Marx, Lenin und Mao."
2. SARS sei von den Amerikanern verbreitet worden, um den Aufstieg Chinas zur Supermacht zu bremsen
Dies höre ich vereinzelt von chinesischen und russischen Bekannten, die nicht damit fertigwerden, dass wir alle arme Würstchen sind im Vergleich zu Supermann Georg W. in Washington. Ich gebe ihnen die Telefonnummer von Bundeskanzler Gerhard Schröder und rege an, mit ihm eine Selbsthilfegruppe zu gründen. Name des Vereins: Mentale Opfer der Bush-Krieger.
3. SARS sei bei Biowaffen-Versuchen der chinesischen Militärwissenschaftler aus einem Labor entwichen
Ja, die Geschichte des 20. Jahrhunderts kennt einige solcher Fälle, unter anderem in Jekaterinburg in Russland, wo im April 1979 bei B-Waffen-Versuchen Anthrax-Erreger entwichen und mehrere hundert Menschen töteten. Wer allerdings jemals den Tiermarkt von Kanton mit eigenen Augen gesehen hat, hält eine andere Theorie für wahrscheinlicher: SARS ist vom Tier auf den Menschen übergesprungen. Dort stinkt es vor Kot, Blut und Dreck, dort treibt die Enge der Käfige selbst Tierhassern die Mitleidstränen in die Augen.
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Alle Tagebucheinträge von Matthias Schepp
4. Raucher werden weniger angesteckt als Nichtraucher
Konnte vom deutschen Botschaftsarzt Klinnert und anderen Kapazitäten gegenüber dem stern nicht bestätigt werden. Chinesische Zeitungen veröffentlichten zahlreiche Artikel, die darauf verweisen, dass eine vorbelastete Lunge eher das SARS-Risiko erhöhe. Ich bin ohnehin Nichtraucher und beschließe, es statt mit Zigaretten fortan mit gutem Rotwein zu versuchen. Man kann nie wissen...
5. Die Deutsche Schule werde nach den Ferien nicht wieder geöffnet
Dies meldete das ZDF-Morgenmagazin. Das Gegenteil ist wahr, versichert der Schulleiter Siegfried Meschede. Von den dreihundert Schülern erwartet er mindestens 80 Prozent zurück. Erst acht Schüler hätten sich abgemeldet, weil ihre Eltern die Stadt wegen des SARS-Risikos verlassen hatten. Die Lehrer werden geschlossen antreten, verkündet Meschede, dem eine preußische Strenge nicht abgesprochen werden kann. Ansonsten müsse er schulrechtliche Maßnahmen einleiten. Man könne schließlich nicht die Kinder zurückbeordern und selbst kneifen.
6. Die Deutsche Botschaft werde geschlossen
Botschafter Boudré-Gröger bittet darum, ihn umgehend über die Schließung zu informieren. Dann müsse er nämlich nicht ins Büro, scherzt er.
7. Der Flughafen werde geschlossen
Ich plane, dort morgen meine Frau abzuholen. (Bitte merken Sie sich in Ihrem Kalender vor, am Freitag in dieser Angelegenheit das Pekinger SARS-Tagebuch bei stern.de zu konsultieren.
8. Jeder Pekinger werde auf SARS zwangsgetestet
Ja, chinesische Politiker lieben solche Maßnahmen. So muss jeder Ausländer, der in China arbeitet, bei der Einreise einen Aids-Test absolvieren. Allerdings gibt es noch keine zuverlässige SARS-Schnelldiagnose. Gäbe es einen Test, drängt sich bei 14 Millionen Einwohnern allein in Peking und 1,3 Milliarden Menschen in der Volksrepublik eine Frage auf: Wer soll das bezahlen?
9. Der stern betreibe eine sensationslüsterne SARS-Berichterstattung
Bitte lesen Sie dazu mein Online-Tagebuch von Dienstag, dem 29. April: Superstar - der deutsche SARS-Arzt Volker Klinnert und den Bericht in der Printausagabe des stern von dieser Woche: Leben mit dem Virus, auf den Seiten 142 bis 149 (Text Online)
10. In Peking werde bald das Essen knapp
Besonders in der vergangenen Woche kam es zu Panikkäufen. Auch einige chinesische Mitarbeiter und Freunde stürzen sich in den Supermärkten auf die letzten Nudelpakete. In Einzelgesprächen versuche ich, sie zu beruhigen und verteile einen Sinnspruch von Franklin D. Roosevelt: Wir müssen nichts fürchten, außer der Furcht selbst.
Matthias Schepp