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USA Amerika wie im Mittelalter - hier wohnen Donald Trumps Wähler

Tara Westover und ihr Buch "Educated"
Tara Westover beschreibt in ihrer Biographie "Educated" ihre Kindheit in einem Mormonen-Haushalt - und ihre Flucht aus dieser Welt
© Nik Wheeler/Getty Images, ww.penguinrandomhouse.com, Paul Stewart / Getty Images
Wer die USA und den Erfolg Donald Trumps besser verstehen will, sollte "Educated" lesen, die Biographie Tara Westovers. Es ist eines der besten Bücher über den Zustand Amerikas.

Bis sie neun Jahre alt ist, existiert Tara Westover für den amerikanischen Staat gar nicht. Sie hat keine Geburtsurkunde, ihr Vater Gene glaubt, die Regierung sei Teufelszeug. Er will, wie so viele, mit dem Staat einfach nichts zu tun haben. In einem Tal in Idaho bereitet er sich auf den Weltuntergang vor, indem er eingekochte Pfirsiche und Waffen im Garten vergräbt. Beim Arzt ist Tara Westover bis ins Erwachsenenalter nie, weil es der Vater verbietet. Gott würde es schon richten, so die Meinung des Familienoberhauptes.

Seit Donald Trump zum Präsidenten der USA gewählt wurde, war oft die Rede vom "vergessenen Amerika". Von einem tiefen Riss, der durch das Land geht. Von Gegenden, die sozial und wirtschaftlich am unteren Rand liegen. Die Menschen, die dort leben, sind oft unverschuldet arm, ungebildet, verzweifelt  - und leicht beeinflussbar. Die Lebensverhältnisse brutal und elendig. Wie schlimm, können wir uns in Deutschland kaum vorstellen.

"Educated" - ein Bestseller in den USA

Tara Westover wuchs genau in einer solchen Gegend und Familie auf. Als jüngste Tochter fundamentalistisch mormonischer Eltern. Ihre Biographie "Educated", die in den USA in der Bestseller-Liste der New York Times steht, ermöglicht einen tiefen Blick in die Lebensverhältnisse dieser Gesellschaftsschicht. Überdurchschnittlich viele Trump-Anhänger kommen aus diesen Teilen der USA. Es sind Menschen, die sich vom amerikanischen Traum abgehängt und verraten fühlen. Die sich vergessen und verlassen fühlen. Deren Gedankenwelt oftmals stark durch konservative Religiosität geprägt ist.

Denn die USA sind eben nicht nur die fortschrittlichen Metropolen wie Los Angeles und New York. Im ländliche Hinterland lebt die wahre Macht. Schon J.D. Vance hatte das Leben dieser Hinterwäldler in seinem sehr erfolgreichen Buch "Hillbilly Elegy" sehr treffend beschrieben.

Tara Westovers Familie schickt ihre sieben Kinder nie zur Schule, unterrichtet sie stattdessen zu Hause. Normalität in den ländlichen Regionen der USA. Weil das Geld fehlt -  oder aus religiösen Gründen. Weil die Familien zum Beispiel nicht an die Evolution glauben und nicht wollen, dass ihre Kinder etwas über Charles Darwin lernen. In den USA ist das möglich, denn es gibt keine generelle Schulpflicht.

In Tara Westovers Fall besteht der Unterricht darin, dass das Mädchen im Keller heimlich in alten Büchern blättert. Meist muss sie die Bibel oder Schriften aus dem Buch der Mormonen lesen. Ansonsten arbeitet sie von klein auf für ihren Vater auf dem Schrottplatz. Körperlich schwere Arbeit für das Mädchen. Außerdem liebt es der Vater, seine Kinder mit Schrottteilen zu bewerfen. Aber das ist noch die kleinste Gefahr im Westover-Haushalt.

Keine medizinische Hilfe - auch nicht bei schweren Unfällen

Tara Westovers Buch zu lesen fühlt sich an, als würde man einem Unfall beim Entstehen zuschauen. Das Grauen entfaltet sich langsam. Man leidet mit dem heranwachsenden Mädchen mit. Vor allem, die Weigerung des Vaters, medizinische Hilfe zuzulassen, schockiert. Ehefrau Faye ist dem Familienoberhaupt treu ergeben, sie widerspricht nie und stoppt ihn erst recht nicht.

Als einer der Söhne sein Bein schwer verbrennt, die Ehefrau und ein weiterer Sohn bei Unfällen lebensbedrohliche Kopfverletzungen davon tragen, verhindert der Vater, dass sie ins Krankenhaus kommen. "Gott und seine Engel sind da, sie arbeiten neben uns", erklärt er seiner Tochter. Mehr als Kräutermischungen, die seine Frau anrührt, lässt er nicht als Behandlung zu.

Sohn und Ehefrau überleben zwar, leiden aber danach an schweren geistigen Einschränkungen. Als Tara Westover an einer eitrigen Mandelentzündung erkrankt, ordnet der Vater an, sie solle sich mit offenem Mund in die Sonne stellen, das würde Wunder wirken. Das junge Mädchen macht das für einen Monat jeden Morgen eine Stunde lang.

Für den Jahrtausend-Wechsel sagt Gene den Untergang der Welt voraus. Als der ausbleibt, sitzt er enttäuscht zu Hause. Mutter Faye verdient Geld, in dem sie ohne jegliche Ausbildung als Hebamme arbeitet. Für die Frauen in ihrer Nachbarschaft ist das eine große Hilfe, denn die meisten haben keine Krankenversicherung und können sich eine echte Hebamme nicht leisten. Außerdem verkauft Faye selbst angerührte Kräuter-Öle, die gegen alle Art von Gebrechen helfen sollen.

Missbrauch durch den eigenen Bruder

Über Jahre hinweg wird Tara Westover regelmäßig von ihrem älteren Bruder Shawn körperlich misshandelt und missbraucht. Eines nachts schleicht er sich in ihr Zimmer und würgt Tara. Er beschimpft sie als Hure, weil sie sich mit einem Jungen aus dem Dorf unterhalten hat. Alles passiert unter den Augen der Eltern, die nichts gegen die brutalen Übergriffe unternehmen.

Später verünglückt Vater Gene schwer, große Teile seiner Haut verbrennen. Obwohl die Schmerzen unterträglich sind und er mit dem Tod ringt, will er nicht ins Krankenhaus. Stattdessen lässt er sich im Wohnzimmer von seiner Frau mit Kräutern behandeln. Wochenlang vegetiert er nahezu bewegungslos so vor sich hin. Das Gesicht furchtbar entstellt, die Lippen weggebrannt, eine Hand zur schrumpeligen Klaue verformt, überlebt er knapp.

Seine Genesung wird von Gleichgesinnten im ganzen Land als Wunder gefeiert. Die Mutter gilt nun als Heilerin und verdient mit ihren Kräutermischungen ein kleines Vermögen. Kranke und Gebrechliche reisen von weit her zu ihr, um sich helfen zu lassen. Ohne medizinische Ausbildung berät und therapiert sie.

Tara Westover lernt heimlich für die College-Aufnahmeprüfung

Anders als ihre Geschwister sehnt sich Tara Westover danach, die Welt jenseits des Tales zu erkunden. Heimlich lernt sie für den Zulassungstest zum College. Zu ihrer eigenen Überraschung schneidet sie beim Examen gut genug ab, um für die mormonische Bringham Young University in Utah zugelassen zu werden. Vater Gene kommentiert den Erfolg der Tochter lapidar: "Unser Unterricht zu Hause ist mindestens so gut wie jede andere staatliche Erziehung." Unter Widerstand lässt er sie ziehen.

Am College und im Wohnheim lernt Tara eine völlig neue Welt kennen. Zum einen ist sie schockiert vom "unsittlichen" Benehmen ihrer Mitbewohnerinnen, die in rosa Pyjamas durch die Wohnung laufen. Ihre Mitschüler stehen ihr ebenso fassungslos gegenüber, als Westover im Geschichtsseminar fragt, was der Holocaust sei. Sie hat das Wort noch nie zuvor gehört. Sie kennt weder Napoleon, Martin Luther King Jr. oder den Fakt, dass Europa kein Land ist. Und sie glaubt, dass die Sklaven aus Afrika mit großer Freude und freiwillig in die USA gekommen seien. So wie es Vater Gene immer erzählt hatte.

Aber sie hat riesiges Glück. Auch wenn sie ungebildet ist, erkennen ihre Professoren Talent in Westover und fördern sie. So schafft sie es sogar, Stipendien für die Universitäten Cambridge und Harvard zu ergattern.

Mit ihren Eltern bricht Tara Westover endgültig. Denn die wollen sie in einer Teufelsaustreibung dazu zwingen, der Familie treu zu bleiben. Als sie Mutter und Vater offen mit dem jahrelangen Missbrauch durch ihren Bruder konfrontiert, wird sie verstoßen. Ihr Fazit danach: "In Familien wie meinen ist die Wahrheit schlimmer als das Verbrechen."

Viele Trump-Fans im ländlichen Hinterland

Ja, so sind die USA auch. Das konservative Amerika ist tief verwurzelt und mächtig. Menschen wie Tara Westovers Eltern haben Trump erst möglich gemacht. Überdurchschnittlich viele seiner Wähler kamen aus diesen ländlichen Regionen im Hinterland. Sie wollten endlich auch in Washington gehört werden. Der reiche Außenseiter Trump gab ihnen das Gefühl, einer von ihnen zu sein. Und das ist auch eine bittere Wahrheit: Nur den wenigsten gelingt aus Lebenswelten wie der der Westovers die Flucht. Vielen weil sie nicht können. Aber mindestens eben so vielen, weil sie nicht wollen. 

Tara Westover. Educated: A Memoir. 352 Seiten. Das Buch ist bisher bei Random House auf Englisch erschienen.

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