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Zweiter Lockdown Tschüss, Kino! Ein Abschiedsbrief an einen Ort, der fast unbemerkt stirbt

Ein Kinosaal
Die Corona-Pandemie bedroht die Existenz der Kinobranche. Unser Autor nimmt deshalb schon einmal Abschied vom Kino. 
© Jake Hills / Unsplash
Der zweite Lockdown trifft das Kino hart. Schon vor Corona litt die Branche unter der Digitalisierung. Nun steht sie am Rand des Bankrotts. Unser Autor nimmt schon einmal Abschied.

Liebes Kino,

ich schreibe dir, weil ich nicht weiß, wann und ob wir uns überhaupt noch einmal wiedersehen werden. Deine Zukunft ist ungewiss. Die Pandemie und der erneute Lockdown bedrohen deine Existenz. Im November musst du erneut schließen – keine Filme, keine Zuschauer, keine Einnahmen. Immerhin will der Bund dir bis zu 75 Prozent des Vorjahresumsatzes erstatten. Ob dir damit geholfen ist? Ich glaube kaum!

Es verschafft dir maximal Zeit. Denn du kämpfst ums Überleben. Nicht erst seit Beginn der Pandemie, schon viel länger. Das Coronavirus hat deine Situation nur verschlimmert. Wenn du ein Tier wärest, stündest du auf der Roten Liste bedrohter Tierarten. Du bist vom Aussterben bedroht. Nur bekommt es niemand mit. Die Wahrnehmung der Gesellschaft ist selektiv. Sie beschränkt sich auf das vermeintlich Wichtigste. Da ein Großteil der Menschen egoistisch ist, denkt er zunächst an sich – und in Deutschland heißt das natürlich: Rettet die Automobilindustrie und den Profifußball! Was wäre Deutschland bloß ohne Volkswagen und den FC Bayern München? Umweltfreundlicher, sympathischer und weniger korrupt?

Schluss mit dem Zynismus und der Polemik. Dein Problem, liebes Kino, ist, dass dich kaum einer hört. Kaum einer bemerkt, wie du langsam stirbst. Oder hat jemand mitbekommen, dass AMC Entertainment, die größte Kinokette der Welt, zu der auch die UCI Kinowelten gehören, kurz vor dem Bankrott steht? Allein im ersten Halbjahr 2020 haben die Kinos in Deutschland mehr als 50 Prozent Minus im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gemacht.

Kino – der schönste Ort, um Filme zu gucken

Ich weiß, liebes Kino, du kennst die Zahlen – viele deiner Fans allerdings nicht. Auch deshalb machte Christian Bräuer, Vorsitzender der AG Kino, eines Netzwerks unabhängiger Kinos, im Gespräch mit dem "Spiegel" auch noch einmal auf den Ernst der Lage aufmerksam: "Eine zweite Schließung führt uns in die Katastrophe", sagte er. "Das bringt Verwerfungen mit sich, die gar nicht absehbar sind und die weit über die Zeit der Schließung hinausführen. Bei uns geht es um die Existenz."

Aus diesem Grund schreibe ich dir, liebes Kino. Ich habe Angst, dich zu verlieren. Ich weiß, das klingt melodramatisch – vielleicht ist es auch übertrieben. Aber deine Situation macht mir ernsthaft Sorgen. Denn für mich gibt es keinen schöneren Ort, einen Film zu sehen, als bei dir. Nur bei dir tauche in eine Traumwelt ein. Ich kuschele mich auf einen deiner gemütlichen Sitze, stopfe genüsslich das Popcorn (natürlich salzig – wer mag schon süßes Popcorn?!) in mich hinein, schweige und tauche ab in eine Welt, in der ich von nichts und niemandem für mindestens anderthalb Stunden gestört werde.

Mit Sorge beobachte ich deshalb die Geschehnisse der vergangenen Monate, dass Filme, die normalerweise Kassenschlager gewesen wären, auf Streamingplattformen angeboten wurden. "Mulan" zum Beispiel. Statt auf der Leinwand war dieser bei Disney+ verfügbar. Oder: Tom Hanks' Film "Greyhound – Schlacht im Atlantik" lief statt im Kino auf Apple+. Selbst der neue "Bond" könnte, nachdem der Film in diesem Jahr bereits zweimal verschoben wurde, bei Netflix landen. Das sind bislang zwar nur Gerüchte. Dennoch zeigt es einen Trend. 

Hat das Kino überhaupt eine Zukunft?

Das Virus beschleunigt eine Entwicklung, die sich bereits zuvor in Zeitlupe vollzog: Kinofilme wandern ins Internet ab. Fast jedes große Filmstudio hat inzwischen einen eigenen Streamingdienst. Und bei denen herrscht gerade "Goldgräberstimmung", wie das Branchen-Magazin "Horizont" vor wenigen Tagen schrieb. Fast 42 Prozent der Deutschen sehen sich mittlerweile täglich Filme, Serien oder Filme auf Streamingplattformen an. Tendenz steigend.

Was wird aus dir, liebes Kino? Du hast in der Vergangenheit das Fernsehen besiegt, hattest kein Problem mit Videokassetten oder DVDs, aber das Streaming setzt dir zu. Wie oft hörte ich schon vor der Pandemie von Freunden, Bekannten oder Arbeitskollegen, dass sie Filme in zwei Kategorien bewerten: "Dafür gehe ich ins Kino" und "Das schaue ich später bei Amazon". Wie viel bleibt von dir in Zukunft überhaupt übrig?

Ich merke es an mir selbst. Während der Pandemie war ich ein einziges Mal im Kino. Das lag vor allem daran, dass bis auf "Tenet" keine Filme gezeigt wurden, für die ich bereit war, ins Kino zu gehen. Stattdessen saß ich auf meinem Sofa im Wohnzimmer, aß Pizza und guckte Filme bei Streamingdiensten. In der Regel bekam ich währenddessen drei Anrufe, musste dem Paketboten die Tür aufmachen und drückte zweimal auf Pause, um mir etwas zu essen zu machen oder auf die Toilette zu gehen. Das wäre mir bei dir NICHT passiert, liebes Kino. Ich hoffe, ich bin nicht der Einzige, der dich vermisst. Falls doch, sage ich schon einmal, wie es sich für einen Hamburger gehört: Tschüs.

Quellen: "Spiegel" / "Horizont"

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