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Interview mit Jürgen Serke Ein Anwalt der Vergessenen

Der Journalist und Sammler Jürgen Serke hat für seine "verbrannten Dichter" in Solingen eine Heimstatt gefunden. stern.de sprach mit dem 69-Jährigen über eine verlorene Generation von Künstlern, den Start seiner Recherchen für den stern und seine Rolle in tschechischen Geschichtsbüchern.

Seit über drei Jahrzehnten reist der Journalist Jürgen Serke durch Europa, nach Israel und die USA und recherchiert die Spuren von Autoren, die in die Todesmühlen von Faschismus und Kommunismus geraten sind. In seinen Büchern "Die verbrannten Dichter" (1977), "Die verbannten Dichter" (1982) und "Böhmische Dörfer" (1987) holte er Schriftsteller wie Else Lasker-Schüler, Armin T. Wegener oder Ivan Blatny ins Bewusstsein zurück und rehabilitiert sie zumindest posthum. Der Kern der umfangreichen Sammlung des 69-Jährigen aus Erstausgaben, Manuskripten, Briefen und Fotos ist nun als "Museum der verfolgten Künste" in den Räumen des Solinger "Museum Baden" zu sehen. Die neue Dauerausstellung eröffnete am 30. März mit der Schau "Himmel und Hölle zwischen 1918 und 1989", einem einzigartigen Panorama der Erinnerung und Wiederentdeckung. stern.de sprach im Vorfeld der Eröffnung mit Jürgen Serke.

Vor fast genau 75 Jahren fanden in Deutschland die ersten Bücherverbrennung statt. Nun gibt es in Solingen ein "Museum der verfolgten Künste" - das erste seiner Art in Europa. Schließt sich damit für Sie ein Kreis?

In gewisser Weise, ja. In diesem Museum bekommen jetzt alle diejenigen, deren Bücher damals in Flammen aufgingen, ein sicheres Domizil. Es ist ein Gedächtnisort für eine verlorene Generation Intellektueller. Verloren nicht nur im Faschismus, sondern auch in dem anderen totalitarären System, das ihm nachfolgte.

Das Museum zeigt einen Teil Ihrer umfassenden Sammlung. Warum haben Sie sich ausgerechnet Solingen als Ort dafür ausgesucht?

Anfang der 90er Jahre hatte sich nicht weit von hier, in Wuppertal, eine Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft gegründet. Mein Buch "Die verbrannten Dichter" gab dazu den Anstoß. Diese Gesellschaft lud mich 1992 ein, zu der Zeit also, als in Deutschland mehrere Asylbewerberheime brannten. Die Erwartung war, dass ich eine schöne Geschichte über Lasker-Schüler, die Liebesdichterin, erzähle. Das wollte ich nicht. Es entstand eine andere Idee: Dichter lesen im Asylbewerberheim. Also machten Leute wie Günter Grass, Sarah Kirsch, Günter Kunert und viele andere Autoren bundesweit Lesungen. Vor der Bevölkerung, die zum ersten Mal diese tabuisierten Häuser betreten hatte, und vor den Bewohnern. Die Resonanz war gewaltig. Die Mitgliederzahl der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft stieg von anfangs 56 auf 1600 Mitglieder. 2002 arbeiteten wir dann wieder zusammen bei der Ausstellung "Liebes- und Musengeschichten. Das fragile Glück im Unglück von Verfolgung und Exil", die hier in Solingen startete und 2005 in Jerusalem zum 60. Jahrestag der Befreiung endete.

Und diese Zusammenarbeit führte dann drei Jahre später zur Gründung dieses Museums...

Hajo Jahn, der Vorsitzende der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft, träumte immer von einem "Zentrum der verfolgten Künste". Wir beließen es beim Museum. Es existierte in diesen Ausstellungsräumen schon eine Abteilung für verfemte Malerei, was sich wunderbar mit den "verbrannten Dichtern" kombinieren ließ. Die Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft erwarb dann über ihre Stiftung meine komplette Sammlung, die sie als Dauerleihgabe dem neuen Museum zur Verfügung stellt.

Die verbrannten Dichter

Eine aktualisierte und erweiterte Auflage dieses Standardwerks, ergänzt um eine CD, auf der Angela Winkler, Christian Quadflieg und Otto Sander Texte der "verbrannten Dichter" lesen, ist 2003 im Verlag Beltz & Gelberg erschienen. 442 Seiten. 18,90 Euro

Ihr erstes Buch "Die verbrannten Dichter" geht auf eine Porträtserie zurück, die Sie 1977 im stern veröffentlichten. Wie kam es dazu?

Dass ein Massenmedium wie der stern in den 70er Jahren eine solche Minderheitengeschichte macht, war völlig ungewöhnlich. Zuvor gingen private Recherchen, die ich neben meiner eigentlichen Tätigkeit machte - ich arbeitete damals als Gerichtsreporter beim stern. Die Sache kam ins Laufen, als ich Henri Nannen irgendwann abends bei einem Glas Rotwein Anekdoten von meinen "verbrannten Dichtern" erzählte. Der war begeistert und sagte: "Nehmen Sie sich einen Fotografen und reisen Sie los." Ich reiste also mit Wilfried Bauer los und kam nach einem Jahr wieder zurück. Im September 1977. Alles war recherchiert und geschrieben. Doch der Chefredaktion war das Thema zu grau und zu dunkel, der Herbst stand vor der Tür. Sie kippte die Geschichte - und fuhr in Urlaub. Nur Rolf Gillhausen war noch da, damals Chef der Fotoredaktion. Der hatte zwei meiner Geschichten gelesen und war emotional gepackt. Vierzehn Tage später startete die Serie. Als die Chefredaktion aus dem Urlaub zurückkam, lagen schon wäschekörbeweise positiver Leserbriefe in der Redaktionsstube. Damit war die Sache zu meinen Gunsten entschieden.

Und wurde zu einem Riesenerfolg.

Ja. Die Wiederentdeckung dieser vergessenen Autoren wie Ernst Toller oder Else Lasker-Schüler war eine große kulturpolitische Tat des stern. Hitler hatte bis dahin genau das erreicht, was er wollte, nämlich diese Autoren aus dem Bewusstsein zu streichen. Nun brachte Rowohlt nicht lange nach der Serie seine "Bibliothek der verbrannten Bücher" heraus, bei anderen Verlagen erschienen plötzlich Werkausgaben von Leuten wie etwa Walter Mehring oder Irmgard Keun.

Den "verbrannten Dichtern" folgten dann 1981 die "verbannten Dichter": Autoren, die von kommunistischen Regimes verfolgt wurden und im westlichen Exil saßen. Auch erst als stern-Serie, dann als Buch.

Da hatte ich einen besseren Zugriff, weil diese Autoren noch lebten. Wie wir heute wissen, die Crème de la Crème dieser Literatur. Leute wie Joseph Brodsky, Milan Kundera, Ivan Blatny, Czeslaw Milosz oder Andrej Sinjawski. Die besuchte ich, wieder mit Wilfried Bauer als Fotografen. Das kam in dem damaligen linksgewirkten intellektuellen Milieu gar nicht an. Die Enttäuschungsgeschichten des Sozialismus wollte man nicht hören. Trotzdem war die Serie länger als die erste: zwölf Porträts, drei Monate lang jede Woche eines.

Sie hatten immer einen besonderen Bezug zu Osteuropa, insbesondere zur Tschechischen Republik.

Ja, das kommt daher, dass ich noch vor meiner Zeit beim stern 1967/68 als Korrespondent der Nachrichtenagentur United Press International in Prag gearbeitet habe. Ich erlebte dort den "Prager Frühling" und seine Zerschlagung hautnah mit und hatte enge Kontakte zur Charta 77, der Bürgerrechtsbewegung um Vaclav Havel. Durch eine Mischung aus Zufall und Dreistigkeit landete ich gar auf dem offiziellen Präsidentenfoto seitlich hinter Dubcek und Svoboda. Nach dem Einmarsch der Russen wurde Dubcek herausretuschiert - mich ließen sie als Bindemittel drauf. Dabei übersahen sie jedoch, dass ich drei Beine hatte. So stehe ich als auf zwei Beinen in der authentischen tschechischen Geschichte und auf dreien in der gefälschten. Als ich Dubcek 1989 während der Revolution wieder traf und ihm die Geschichte erzählte, sagte er: "Jetzt sind wir beide wieder im Bilde."

Geht mit diesem Museum für Sie eine Ära in Ihrer Arbeit zu Ende?

Damit ist auf jeden Fall etwas zum Abschluss gekommen. Ich bin kein Journalist, der wie ein Literaturwissenschaftler sein ganzes Leben lang Franz Kafka erforscht und wie eine Zecke im dünnen Fleisch dieses Mannes sitzt. Das ist nicht meine Geschichte. Ich muss immer weiter.

Wissen Sie schon wohin?

Ich weiß es, meine Frau weiß es - und hat darüber schon den Kopf geschüttelt. Sie werden es bald erfahren.

Interview: Mark Stöhr

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