Vor drei Tagen habe ich mir einen neuen Sessel und eine Deckenleuchte gekauft. Eine gute Entscheidung. Ich werde viel Zeit haben, darin zu sitzen und auf die Lampe zu starren. Bei jeder Schwummrigkeit, jedem Kratzen im Hals oder leichtem Unwohlsein denken: Ha! Jetzt hab ich's auch. Wie viel Isolation haben Sie sich an diesem Wochenende gegönnt? Waren Sie wie immer in ihrem Stammcafé? Hingen Sie mit anderen draußen in der Sonne und haben die Frühlingssonne genossen, aneinandergequetscht, dicht an dicht? Nachvollziehbar und menschlich. Wenn auch nicht besonders klug.
Coronavirus und Social Distancing: nicht auf die Vernunft und Eigenverantwortung der Bürger setzen
Es wird voraussichtlich das letzte Wochenende gewesen sein, an dem wir überhaupt die Möglichkeit hatten, uns so frei und widersinnig zu versammeln, denn: Frühling lässt sein Absperrband, Uns zuwider flattern durch die Lüfte. Wir alle kennen die Bilder von jungen Menschen, dicht gedrängt auf dem Viktualienmarkt, WhatsApp-Gruppen, die sich zu "Corona-Parties" verabreden. Man muss diese Leute nicht als Idioten beleidigen, muss aber doch feststellen, dass es in Krisenzeiten falsch ist, auf die Vernunft und Eigenverantwortung der Bürger zu setzen. Ich kenne das doch von mir selbst. Ich bin ins Gym gegangen, "weil das nicht so voll ist und man da ja Abstand hat und außerdem ist S-Bahn fahren ja viel schlimmer!" Hamsterpumpen.
Ich fummle mich durch, solange bis jemand sagt: Jetzt ist Schluss. Im besten Falle von einer Führungsinstanz kommend, der ich vertraue. Das kann die Kanzlerin sein. Das könnte vielmehr noch – oh, mein Gott, was schreibe ich da! - Markus Söder sein. Ganz sicher aber ist es der "Kult-Virologe" Christian Drosten. Es ist ein Signum der Zeit: Virologen sind die neuen Influencer. So werden immerhin mal Menschen populär, die wirklich etwas können. Start making clever people famous. Außerdem rät der Mann dazu, rauszugehen und Flaschenbier zu trinken. Gänsehaut. So jemanden muss man doch lieben.
Flatten the Curve ist einfach
Viele europäische Länder verhängen (mehr oder minder drastische) Ausgangssperren, während dieser Text seinen Weg ins Internet findet, wird es für Deutschland auch entschieden werden. Es nervt jetzt schon. Und es wird noch schlimmer nerven. Es scheint aus Gründen der Gesundheitsprävention richtig. Das Prinzip #flattenthecurve ist einfach:
Hier geht es nur darum, dass nicht zu viele Menschen gleichzeitig erkranken und unser Gesundheitssystem so belasten, dass chronisch Kranke, Alte und Infizierte nicht mehr behandelt werden können. Oder, um es anders zu sagen: Wenn wir alle Krankenhauspersonal so schätzen, wie wir es bei jeder Gehaltsdebatte so leidenschaftlich vorgeben, dann müssen wir es ihnen ersparen, in eine psychisch belastende Situation zu geraten, in der sie vor mehreren Intensivpatienten stehen und entscheiden müssen, wer leben darf - und wer sterben muss. Und ja, so dramatisch ist das wirklich. Gleichzeitig so einfach.
Wer jetzt in Gruppen zusammen sitzt und beim Café Latte jammert, dass ihn oder sie die Corona-Sperre seiner Lieblingsläden nervt, trägt aktiv dazu bei, dass diese Sperre länger dauert. Ist wie mit 'nem Bänderriss zu Hause sitzen und nach einer Woche wieder Fußballspielen gehen - nur, um dadurch den Heilungsverlauf um Wochen zurückzuwerfen. Klingt selbstverständlich. Weiß doch jeder.
Isoliert euch!
Dann allerdings blickt man in diese Cafés oder Klorollen-Flashmobs in Supermärkten, Edeka-Filialen, die um 11 Uhr 35 bereits aussehen wie die Streitwagenszene in Ben Hur, und du denkst einfach nur: Isoliert euch! Blickt nach Italien. Fast eine traurige Pointe, dass das, was wir immer an unseren südeuropäischen Nachbarn geschätzt haben ihnen zum Verhängnis werden sollte: Die familiäre Nähe, wo drei Generationen unter einem Dach dicht an dicht leben. Überdies ist die Herzlichkeit und Sehnsucht nach körperlicher Zuwendung ebenfalls eine Eigenschaft, die die Verbreitung der Viren begünstigt. Insofern eigentlich verwunderlich, dass es in Deutschland überhaupt einen Fall gibt.
So einen mediterranen Viergenerationenhaushalt kenne ich. Ich komme selbst aus einem. Am Wochenende war ich dort. Gerne hätte ich meine Mama in den Arm genommen. Ich hätte meine Omma gerne geküsst und geknuddelt. Wenn ich aber will, dass wir im Juni ihren 95sten Geburtstag feiern, ist das Beste, was ich für sie tun kann: fern bleiben. Herzlichkeit killt.
Kinder halten sich nicht an Reinlichkeitsvorschriften
Deshalb ist es auch so sagenhaft unsinnig, einerseits die Kitas zu schließen - nur, damit die Eltern, um weiter arbeiten zu können, die Kleinen bei den Großeltern abgeben. Nein, verdammte Scheiße, darum geht es doch! Genau das gilt es zu verhindern. Kinder sind wie dieser Affe bei "Outbreak"! Die halten sich nicht an Reinlichkeitsvorschriften, fassen alles an, überall rein und haben ein Hygieneverständnis wie der dritte Ersatzkoch in einer rumänischen Bahnhofsbulettenbraterei, kurz: Sie scheren sich wenig um Desinfektion. So jemanden willst du nicht auf den Schoß der Alten setzen, die du liebst.
Unter diesen Vorzeichen wirkt die 30 Jahre alte Werthers Echte-Reklame fast wie ein Snuff-Film. Es könnte gut sein, dass meine vierjährige Tochter größenwahnsinnig wird. Kaum sagt sie, dass sie keine Lust hat in den Kindergarten zu gehen - wird das Ding komplett geschlossenen! Wir dürfen uns nichts vormachen: An dieser Krise ist nichts gut. Keiner würde sich freiwillig für diesen Zustand entscheiden. Wer erblindet, der freut sich, dass er Arien jetzt viel besser hören kann. Sehen würde er trotzdem gerne wieder.
Alles, was wir schaffen, ist eine autosuggestive Selbstermahnung zum Herausstellen der positiven Effekte, die diese Pandemie haben könnte. Und darauf hoffen, dass diese nachhaltig sind. Junge Menschen hängen draußen Zettel hin und bieten an, für ältere Leute einkaufen zu gehen. Eltern organisieren sich privat, auf Kinder anderer Leute aufzupassen. Stammgäste kaufen ihren Gastronomien Gutscheine ab, um den Laden finanziell zu stärken und am Ende der Seuchendepression das langsam runter zu trinken. Man denkt aneinander, fängt an zu Facetimen oder verabredet sich via Skype zum gemeinsamen Biertrinken. United vs. Isolation!
Wirtschaftszweige liegen am Boden
Wie viel isolierter man sich in den nächsten Wochen vorkäme, gäbe es soziale Netzwerke nicht. Die viel gescholtene Digitalisierung der Vielen kann hier ernsthaft das leben Einzelner retten. Das mit auf dem Balkon singen klappt noch nicht so ganz - das hat aber auch damit zu tun, dass selbst die banalsten Songs auf italienisch deutlich schöner klingen. Geht "Sie können hier nicht parken!" schon als Rap durch? Polizisten atmen auf, weil sie nicht mehr am Wochenende mit der Hundertschaft zu den Bundesliga-Stadien müssen. Stattdessen müssen sie demnächst verstärkt wegen häuslicher Gewalt ausrücken.
Die Scheidungs-, Geburten- und Podcastraten werden heftig ansteigen. Und auch, wenn ich für mich persönlich beschließe, dass das Corona-Veto mich womöglich vor dem ersten Herzinfarkt bewahrt und der Deutsche von seinen Planbarkeitneurosen kuriert wird - es gibt ganze Wirtschaftszweige, die am Boden liegen. Kunst, Kultur, Gastronomie. Die können sich von unserer Sozialromantik nichts kaufen. Deshalb scheinen mir Maßnahmen wie ein Corona-Soli, besser aber noch ein temporäres bedingungsloses Grundeinkommen unabdingbar. Und sei es nur, damit die ganzen Kellner und Kellnerinnen in Berlin nicht zurück zu ihren Eltern nach Pforzheim ziehen müssen. Denn genau da sollen sie ja nicht hin.
Unsere Gesellschaft befindet sich in einem gewaltigen Knobelbecher. Wir werden durchgeschüttelt. Und schauen, wie wir wieder herausgewürfelt werden. Gemeinschaft ist wie eine gute Beziehung. Gestärkt aus der Krise kommen. Wichtig ist nur, dass wir auch dann nicht die Fassung verlieren, wenn dieser Zustand längere Zeit dauert als 14 Tage - und auch dann für die alte Nachbarin einkaufen, wenn man das nicht mehr bei Instagram posten kann. Hauptsache, bis dahin bleibt das Internet stabil.
Bleibt gesund.*
Namasté
(*Es fühlt sich so gut an, anderen das zu sagen.)