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M. Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier Moderna Talking – Impf und Schande

Micky Beisenherz  über Impfneid in Deutschland
Auf dem Jahrmarkt der Aburteilungssehnsüchte gibt es einen neuen Topseller: Impfscham
© Picture Alliance
In Deutschland macht sich Impfneid breit. Demnächst werden die Stühle im Wartezimmer vom Hausarzt um 7 Uhr 55 mit Handtüchern belegt sein, glaubt Micky Beisenherz

Corona ist ja nicht nur ein Marathon, sondern vor allem auch ein Canossagang. Und auf dem Jahrmarkt der Aburteilungssehnsüchte gibt es einen neuen Topseller: Impfscham.

Micky Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier

Mein Name ist Micky Beisenherz. In Castrop-Rauxel bin ich Weltstar. Woanders muss ich alles selbst bezahlen. Ich bin ein multimedialer (Ein-)gemischtwarenladen. Autor (Extra3, Dschungelcamp), Moderator (ZDF, NDR, ProSieben, ntv), Podcast-Host ("Apokalypse und Filterkaffee"), Gelegenheitskarikaturist. Es gibt Dinge, die mir auffallen. Mich teilweise sogar aufregen. Und da ständig die Impulskontrolle klemmt, müssen sie wohl raus. Mein religiöses Symbol ist das Fadenkreuz. Die Rasierklinge ist mein Dancefloor. Und soeben juckt es wieder in den Füßen.

Impfscham und Impfneid

Immer häufiger erzählen sich Menschen mit der Verdruckstheit einer Brustvergrößerung, dass sie bereits geimpft seien. "Psst. Sogar mit Biontech." Oha. 0,3 ml pure Obszönität. Einige berührend Irre haben es sogar gewagt, Belege ihrer Impfung zu posten. Um Gottes Willen. Da kann man sich auch gleich bei Twitch streamen, wie man eine Autobatterie im Wald vergräbt oder die letzte Platte von Jan Josef Liefers hört. WIESO BIST DU DENN SCHON GEIMPFT?!! Ist das neue "Glückwunsch. Freut mich für Dich."

Grenzte es präpandemisch schon an gesellschaftlichen Selbstmord, Fotos von Flugreisen zu posten, so sollte man sich als jemand unter, naja, sagen wir mal, Fernsehgartenzielgruppe gut überlegen, ob es ratsam ist, öffentlich von seiner Vakzinierung zu berichten. Man riskiert schnell Blicke, wie sie einen im Frühling des letzten Jahres trafen, wenn man es wagte, sich zu viert eine Picknickdecke zu teilen. (Bevor man dann bei Twitter hochgeladen wurde.)

Warum die – und warum nicht ich?

Nun sind die Gründe vielfältig, warum jemand "vorzeitig" in die Gunst eines Shots gekommen ist. Diabetiker, Asthmatiker, Stoffwechselgestörte. Es soll Menschen geben, die sich spontan für Nachwuchs entschieden haben, um als Schwangerschaftsbeteiligter gleich mitgeimpft zu werden. Und manche haben die Liebe zu ihren Großeltern erst jetzt wieder entdeckt, da sie als Kontaktperson der lieben Oma aus Impfgruppe 1 das flüssige Gold in die gierigen Venen kriegen. Unverschämtheit.

Auch hier schwebt die Frage über allem, die sich wie eine Nadel ins waidwunde Fleisch der Bevölkerung bohrt: Warum die – und warum nicht ich? "WEIL ICH ZU FETT BIN, VERFICKTE SCHEISSE! Jetzt zufrieden?" Auch solche ehrlichen Antworten drohten schon manchen zu entfahren, denen diese peinlichen Immunisierungsschnüffeleien langsam zu viel wurden. Moderna Talking.

Da schmeißen wir lieber Zehntausende Dosen weg

Nur noch eine Frage der Zeit, bis der ersten adipösen Person von wütenden Nichtgeimpften mit einem dröhnenden "erst geimpft werden, und dann auch noch Cornetto fressen, was?!" die Eistüte aus der Hand geschlagen wird. Es ist ja kein Geheimnis, dass wir Germanen uns gerne in den Abgrund regulieren. Aber was uns lähmt, ist nicht nur die VollverTÜVung, sondern mindestens genauso die tiefe Sorge, versehentlich "den Falschen" etwas zuzugestehen. Da schmeißen wir lieber Zehntausende Dosen weg. Gegen das Gönnen haben wir seit Jahren stabil Herdenimmunität.

Umfragen, ob Geimpften "Privilegien" zugestanden werden sollten, belegen dies. Sicher, es war immer unser aller Ansinnen, das Leben unserer Mitbürger zu schützen – aber besser als unser eigenes soll es dann bitteschön auch nicht sein. Ja, es gibt sie. Die Geimpften, die womöglich nicht nur alt und gebrechlich sind, sondern uns unverschämterweise womöglich sehr ähnlich. Diese Leute sollten ab sofort die Gelegenheit haben, ohne Weiteres zum Friseur zu gehen, einkaufen zu gehen oder zu reisen. Ja, vielleicht können sie wieder in den Biergarten gehen und wir noch Ungeimpften müssen zugucken. Denn diese Menschen haben vor allem: Glück gehabt.

Das Pech, später dran zu sein

Sie haben das Glück, nicht gestorben zu sein, nicht schwer erkrankt zu sein, keine Folgeschäden zu haben – und einfach früher dran gewesen zu sein als wir Vulnerablen. Sie haben keine Steuern hinterzogen, keine alten Leute geprellt, ja, nicht einmal die "Bild"-Zeitung im Abo. Sie gehören einfach zu denjenigen, die aus den unterschiedlichsten Gründen früher dran waren – und nun wagen, uns mit ihrem Hochgefühl zu beschädigen.

Merkel zu Corona-Impfpriorisierungen – "Ab Juni kann sich jeder um einen Impftermin bemühen".

Und wir? Wir haben eben Pech. Das Pech, später dran zu sein. Das Pech das man hat, wenn man im Alphabet nicht mit A anfängt, sondern mit T oder der Nebenmann bei Günther Jauch den Knopf ein Hundertstel schneller drückt. "Lassen Sie mich durch, ich bin Impfling!" Horrorvorstellung, was? Der Deutsche lässt halt ungern anderen den Vortritt. Speziell, wenn es um Leben und Tod geht. Oder wichtiger noch: Mallorca. Demnächst werden die Stühle im Wartezimmer vom Hausarzt um 7 Uhr 55 mit Handtüchern belegt sein.

Wir haben es fertig gebracht, so etwas weltumspannend Historisches wie diese Pandemie auf das Provinzniveau einer Buffetschlacht herunter zu sandalen. Das ist doch auch eine Leistung, oder nicht? Sind wir froh, dass wir nunmehr in eine Phase eingetreten sind, in der es überhaupt bereits ausreichend Menschen zum Beneiden und Beschimpfen gibt, oder um es kurz zu sagen: Die Einstiche kommen näher. 

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