Hat Deutschland ein Problem mit rechtswidriger Polizeigewalt? Darüber sprachen der Bundesjugendvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Niels Sahling, und die Attac-Aktivistin Sabine Lassauer in der zweiten Ausgabe der stern-DISKUTHEK mit Moderatorin Melanie Stein.
Der Kriminologe Tobias Singelnstein von der Bochumer Ruhr-Universität forscht seit Jahren zur Polizei – und auch zu Beamten, die gegen Gesetze verstoßen. Im Interview mit dem stern sagt der Rechtswissenschaftler: "Die Staatsanwaltschaften arbeiten tagtäglich mit der Polizei zusammen, man ist dort geneigt, eher dem Beamten Glauben zu schenken. Ähnliches gilt für Gerichte."
Experte zu Polizeigewalt im Interview
Herr Singelnstein, der Polizist Niels Sahling sagte in der DISKUTHEK, er könne sich nicht vorstellen, dass es "Racial Profiling", also Verdächtigungen oder Kontrollen allein aufgrund bestimmter äußerer Merkmale wie der Hautfarbe, gibt. Hat er Recht?
Das ist ein bisschen blauäugig. Wir wissen zum einen, dass es Rassismus in der Gesellschaft gibt, und da ist die Polizei keine Ausnahme. Zum anderen gibt es in der Polizei auch Strukturen, Vorgehensweisen und Praxen, die man als rassistisch bezeichnen kann.
Was bedeutet das?
In bestimmten Situationen darf die Polizei verdachtsunabhängig Bürger kontrollieren und die Frage stellt sich, nach welchen Kriterien ein Beamter entscheiden soll, wen er kontrolliert. Wenn es dabei um äußerliche Merkmale geht, also zum Beispiel um ein "ausländisches Aussehen", dann ist das eine rassistische Praxis. Was nicht unbedingt bedeutet, dass der jeweilige Beamte eine rassistische Einstellung hat.
CDU-Politiker Friedrich Merz hat kürzlich gesagt, dass sich mehr und mehr Polizisten rechten Parteien wie der AfD zuwenden. Sind Polizisten und ihre Vorgesetzten für das Rassismus-Problem nicht ausreichend sensibilisiert?
Hier lohnt ein differenzierter Blick: Einerseits bin ich froh, dass es viele klare Statements zu dem Thema gibt, andererseits glaube ich, dass die Auseinandersetzung damit noch nicht genügt, es ist noch sehr viel mehr nötig. Das hängt jedoch auch von den einzelnen Dienststellen ab: Was für eine Führungskultur herrscht dort? Wie ist die Stimmung generell? Werden entsprechende Sprüche oder Handlungen einzelner Beamte von Kollegen und Vorgesetzten toleriert oder nicht?
Wenn sich Bürger Rassismus ausgesetzt fühlen oder gar Opfer von Angriffen von Polizisten werden, können sie gerichtlich dagegen vorgehen. Sehr oft werden die Ermittlungen eingestellt, wie auch unser Film zeigt. Woran liegt das?
Wir haben es in der Regel mit schwierigen Beweissituationen zu tun. Oft steht Aussage gegen Aussage. Die Frage ist: wem glaubt man? Die Staatsanwaltschaften arbeiten tagtäglich mit der Polizei zusammen, man ist dort geneigt, eher dem Beamten Glauben zu schenken. Ähnliches gilt für Gerichte. Dort ist es Routine, dass Polizisten in Strafprozessen aussagen, sie gelten als neutrale Beobachter, die zum Beispiel ihre Ermittlungen schildern, und genießen eine hohe Glaubwürdigkeit. In Verfahren gegen Polizeibeamte sind deren Sichtweisen jedoch sehr subjektiv geprägt. Hier muss es auch in der Justiz mehr Selbstreflexion geben. Dazu kommt die sogenannte Mauer des Schweigens. Kollegen sagen als Zeugen nur sehr selten gegen ihre Kollegen aus.
Gibt es einen Ausweg aus dieser Situation?
Ein direkter Ausweg ist schwierig. Ich glaube, wir brauchen einen deutlichen Kulturwandel innerhalb der Polizei. Es muss sich eine Sichtweise durchsetzen, die zum Beispiel klar benennt: Ja, Körperverletzung im Amt ist ein Problem. Und die bereit ist, Fehler einzugestehen und aufzuarbeiten.
Verändert sich in der Polizei etwas hin zu einer ausgeprägteren Fehlerkultur?
Es ist ein zartes Pflänzchen innerhalb der Polizei, ein ständiges Hin und Her zwischen Problembewusstsein- und Problemverdrängung. Es braucht aber auch Strategien für den polizeilichen Alltag. Bewältigungsstrategien und Beratungsangebote wie Supervisionen müssen davon ein fester Bestandteil werden.
Von wie vielen Fällen von Polizeigewalt reden wir denn?
Jährlich werden mehr als 2000 Verfahren wegen Körperverletzung im Amt von den Staatsanwaltschaften erledigt. Ich gehe jedoch von einer deutlich höheren Dunkelziffer aus, von mehreren Tausend weiteren Verdachtsfällen.
Die Polizei darf in bestimmten Situationen Gewalt anwenden. Das passiert jeden Tag tausendfach. Es wäre verwunderlich, wenn es dabei nicht auch zu Grenzüberschreitungen und Missbrauch käme, also zu rechtswidriger Polizeigewalt. Dies muss ebenso wie der Rassismus als strukturelles Problem anerkannt werden.
Nach dem G20-Gipfel in Hamburg wurden über 150 Verfahren gegen Polizisten eingeleitet. Auch unser Gast Sabine Lassauer schilderte einen Übergriff.Gleichzeitig haben wir eine immense Glorifizierung der Beamten erlebt. Auch die in jüngster Zeit verschärften Polizeigesetze sprechen die Sprache der Unantastbarkeit der Polizei. Dazu wird sie bisweilen mit fast militärischen Mitteln aufgerüstet …
Das befördert ein problematisches Selbstverständnis der Polizei, eine Polizeikultur die davon ausgeht, immer alles richtig zu machen. Es gibt in Deutschland keine andere Berufsgruppe, um die sich die Parteien so sehr bemühen wie um Polizeibeamte. Wir haben ein Wahrnehmungsproblem, an dem im Übrigen die Polizeigewerkschaften einen maßgeblichen Anteil haben.
Inwiefern?
Dort herrscht ein Abwehrreflex gegenüber jedem neuen Ansatz rechtsstaatlicher Kontrolle - das prägt das Selbstverständnis in der Polizei. Damit verhindern die Gewerkschaften Transparenz …
… wie im Falle der Kennzeichnungspflicht …
… ja. Es gibt keinen einzigen vernünftigen Grund, der dagegen spricht. Die Gewerkschaften reden von einem Generalverdacht gegen Polizeibeamte. Diese Polemik gegen eine rechtsstaatliche Kontrolle der Polizei als Exekutivorgan ist hochproblematisch. Die Polizei muss diese strukturellen Probleme anerkennen und sie angehen.