Bald wird Karl Lauterbach seinen ersten Wohnsitz ummelden müssen. Bei dieser Dauerpräsenz in den Talkshows dieses Landes. Auch bei Armin Laschet drängt sich die Frage auf: Talkt er noch oder wohnt er schon? Ob das jetzt noch ein, zwei Jahre so weitergeht mit den sogenannten Corona-Talks? Immerhin: es ist wie bei einem Lieblingssong, man kann den Text schon auswendig mitsprechen, den die Dauer-Protagonisten von sich geben. Die Positionen sind bereits klar, bevor überhaupt ein Satz gefallen ist.
"Werden die Corona-Maßnahmen zu forsch gelockert?"
Das Thema bei "Anne Will" lautete "Sorge vor zweiter Infektionswelle - lockert Deutschland die Corona-Maßnahmen zu forsch‘?" Und wer die Antworten immer noch nicht kennt, für den kommt hier die grobe Einordnung: Laschet sagt "Nein", Lauterbach sagt "Ja". Mit ihren gegensätzlichen Positionen bekommen sich die beiden Politiker denn auch im Laufe der Diskussion mächtig in die Haare.
Es diskutierten:
- Annalena Baerbock, Parteichefin von Bündnis 90/Die Grünen
- Christina Berndt, Wissenschaftsredakteurin der "Süddeutschen Zeitung"
- Armin Laschet (CDU), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen
- Karl Lauterbach, SPD-Bundestagsabgeordneter und Epidemiologe
- Christian Lindner, FDP-Parteivorsitzender
Geht es nicht mehr um Leben und Tod? Anne Wills Einstiegsfrage an Laschet. Der antwortete: Doch, ja, natürlich, es gehe immer noch um Leben und Tod. Dennoch, so der Politiker: "Es stehen 40 Prozent - bei uns in Nordrhein-Westfalen, Stand heute Nachmittag - der Intensivmedizinischen Plätze frei." Ein Anliegen machte er besonders deutlich: Es müsse endlich auch mal um die gehen, über die in der "Infektionsdebatte" kaum einer redet: um die Kinder, die unter den Corona-Maßnahmen litten, um die Arbeitslosen, um den Tod derer, die keiner im Blick habe. Denn von der Krise am stärksten betroffen seien die schwächsten in der Bevölkerung.
Immer wieder machte der Ministerpräsident seinen ganzheitlichen Ansatz deutlich, der allerdings kaum Gehör fand. Schade, denn Themen wie steigende Gewalt in Familien sind tatsächlich immer noch Randthemen. Man hätte gerne gehört, wie andere Teilnehmer mit dem Dilemma umgehen, dass die Maßnahmen auch negative Konsequenzen haben. Das konsequente Ignorieren dessen befremdete. Ein User im Forum zur Sendung schrieb: "Mit keinem Wort geht Lauterbach auf die aktuellen Nöte von Familien mit Kindern ein. Auf solche Experten können wir verzichten."
Immerhin: Annalena Baerbock verwies auch auf Senioren, Pflegekräfte und Menschen, die langsam sozial vereinsamen würden. Und sprach davon, Familien zu entlasten. Sie verstehe nicht, "warum man Möbelhäuser höher bewertet als das Wohl von Kindern." Man müsse Kinder und Jugendliche unbedingt mehr in den Blick nehmen. Wie das aber geschehen solle, dazu kam von ihr keine Idee.
FDP-Chef Lindner hingegen konnte sich gar nicht bremsen. Also grundsätzlich. Er bekannte, von der bisherigen Strategie nicht mehr überzeugt zu sein. Diskussionen um die Größe eines Ladens beispielsweise könne er nicht nachvollziehen und auch nicht, dass nach Sparten entschieden werde, also Autohäuser ja und Möbelhäuser nein. Kurzum: so gehe das nicht. Stattdessen plädierte er dafür, dass alle Läden öffnen dürfen, die ein überzeugendendes Hygienekonzept vorlegten. Und: Shutdowns sollten nicht in Leverkusen gemacht werden, wenn es Infektionsfälle in Passau gäbe. Vielmehr müsse man "stärker regional vorgehen". In seinem Plädoyer nach mehr Öffnung berief er sich auf "seriöse Stimmen" vom Helmholtz-Institut.
"Ich hätte die Schulen nie schon geöffnet"
Moment mal, hat da wer Helmholtz-Institut gesagt? Nicht dass Karl Lauterbach Stichworte bräuchte, aber das beispielsweise ist eins. Denn die Wissenschaftler dort, mit denen sei der SPD-Mann regelmäßig im Gespräch. Und, bitte, Herr Lindner, es bekommt Herr Lauterbach dort wohl ganz andere Informationen. Gegenseitige Verwunderung.
So oder so, von so ziemlich allen Seiten in der Wissenschaft, so zumindest vermittelt es Lauterbach, scheint es Furcht zu geben vor einer "zweiten Welle", möglicherweise im Herbst. Zudem sei das Nein übereinstimmend groß in Bezug auf die momentanen Lockerungen in Deutschland. Er befürchte, "das Glück, das wir hatten" zu verspielen - dabei hätten "wir das Südkorea Europas" werden können". Lockerungen seien überhaupt nur unter drei Voraussetzungen vertretbar: gute Masken, Tracing-App und zwei Millionen Tests pro Woche "rund um die neuen Fälle herum". Seine Haltung zu den Schulöffnungen ist klar: "Ich hätte sie nie schon geöffnet." Man hätte noch zwei bis drei Wochen warten sollen. Zudem seien die Schulen nicht vorbereitet gewesen. In Erklärungsnot geriet da Laschet, der von Will und Baerbock in die Mangel genommen wurde: fehlende Desinfektionsmittel, das gehe gar nicht. Laschet verwies auf Versäumnisse der verantwortlichen Gemeinden.
Was dem einen zu weit geht, geht dem anderen nicht weit genug: Armin Laschet, beachtlich in Fahrt, und Karl Lauterbach, der sich ebenfalls gewohnt deutlich gibt, liefern sich im Laufe der Sendung ein regelrechtes Rechthaber-Duell. Während Lauterbach wieder und wieder zu verstehen gibt, dass die Öffnungen fahrlässig seien, argumentiert Laschet damit, dass man es nicht so eindeutig sagen könne, die "Unsicherheitsbedingungen" seien groß. Wenn Wissenschaftler wie etwa der Biochemiker Alexander Kekulé, "alle paar Tage ihre Meinung ändern, sorgt das für Verwirrung". Der angekündigte Peak an Ostern beispielsweise, der sei nicht gekommen.
Logisch, dass sich auch beim Thema Bundesligaspiele die beiden Politiker als Kontrahenten gegenüberstanden. Zu denen, die die Wiederaufnahme kritisch sehen, gehört auch Baerbock. Wie solle man Jungs vermitteln, dass sie nicht auf den Bolzplatz dürften, während die Profispieler kickten. Das sei "zutiefst ungerecht", der "soziale Zusammenhalt" werde aufs Spiel gesetzt.
Was wirklich bei den Bürgern ankommt, wird sich zeigen. Interessant wäre sicher noch gewesen, welche Positionen es gegeben hätte zu der Frage: Sollte man den Bürgerinnen und Bürgern mehr Eigenverantwortung zugestehen? Die Frage stand auch auf der Agenda. Doch dazu kam es nicht mehr.